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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 20.11.2017


Rebecca Hunt - Everland
Bärbel Gerdes

Die britische Schriftstellerin und Malerin Rebecca Hunt konfrontiert die Leserin in ihrem neuen Roman inmitten der unwirtlichen Welt der Antarktis mit der Frage, wie uns die Zeit dazu verleitet zu sehen, wer wir wirklich sind und welche Entscheidungen wir treffen. Wie weit sind wir bereit zu gehen, um uns selbst zu retten?




Schon ihr Debut Mr Chartwell lud uns zu einer Reise durch dunkle Gefilde ein. In ihm ging es um den "Black Dog" Winston Churchills, seiner Depression, die er stets "Schwarzer Hund" betitelte. Auf überaus kreative und phantasiereiche Weise nahm sich Hunt 2010 dieses Themas an – und löste es bravurös. Denn trotz der Schwere dieser Erkrankung, deren Qual die Schriftstellerin fühlbar vermitteln konnte, ist es auch ein Roman zum Lachen und zum Staunen. So landete er völlig zu Recht auf der Longlist des Guardian First Book Award und auf der Shortlist des Galaxy National Book Award.

Nun geht es also in weiße Gefilde, die gar nicht so strahlend sind, wie wir sie uns vielleicht vorstellen. Dunkelheit, Kälte, Winterstürme – das trifft es eher.
Everland ist eine winzige Insel in der Antarktis, die 1913 – also zwei Jahre, nachdem Amundsen den Südpol erreichte und Scott elendig zugrunde ging – von einer dreiköpfigen Mannschaft erkundet wird. Der erste Offizier Napps, der raubeinige Seemann Millet-Bass und der unerfahrene Wissenschaftler Dinners machen sich mit dem Beiboot des Segelschiffs Kismet auf dem Weg. Vier Stunden hätte die Fahrt dauern sollen, doch aufgrund eines schweres Sturms benötigen sie mehr als sechs Tage bis sie, schon da vollkommen erschöpft und mit einem großen Verlust von Proviant und Ausrüstung, die Insel erreichen.

100 Jahre später wird in einem Basislager der Antarktis der Film Everland gezeigt. "Bläser und Kesselpauken" sorgen für die notwendige Dramatik der Expeditionsverfilmung, "ein perfekter Ausdruck für rachsüchtige Gerechtigkeit und wohlverdiente Strafe".

Schon am nächsten Tag soll eine Jubiläumsexpedition stattfinden, nicht unbedingt, um wirklich etwas auf Everland zu erforschen, vielmehr, um die Polarforschung insgesamt wieder ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und somit Forschungsgelder einzuwerben. Zwar sollen sie Seebären und Pinguine taggen, doch hat "diese Jubiläumsveranstaltung eher symbolischen als praktischen Wert."
Auch diesmal besteht die Crew aus nur drei Personen: dem erfahrenen Antarktis-Expeditionsleiter Decker, der Feldassistentin Jess und der unerfahrenen Wissenschaftlerin Brix.

Raffiniert komponiert Rebecca Hunt diese parallelen Expeditionen. Sie erzählt die Geschichte von beiden, rollt die eine vom Ende her auf, die andere vom Anfang.
In beiden Szenarien werden die unerfahrenen Teilnehmenden zur Last – und deshalb immer mehr zur Gewissensfrage.

Von Anfang an weiß die Leserin, dass etwas Furchtbares geschehen sein muss auf der Insel. Haben Millett-Bass und Napps den unbeholfenen Dinners wirklich alleine zurückgelassen?

Trotz Hightechausrüstung sind auch die Mitglieder der 2013-Expedition hilflos den Naturgewalten ausgeliefert. Eisige Stürme machen ihnen das Leben schwer, verbannen sie für Tage im Zelt und bringen Erkrankungen und Erfrierungen. Durch Brix Ungeschicklichkeit wird wohlkalkulierte Zeit verschenkt und die beiden anderen gefährdet.

Ist es so, wie Napps einmal sagte: reißen die Schwachen die Starken tatsächlich in die Tiefe? Und was tun, wenn eigentlich klar ist, dass eine_r vermutlich nicht überleben wird – die anderen jedoch sehr wohl eine Chance hätten, wenn sie diese_n zurück ließen.

Rebecca Hunt, die am Central Saint Martin´s College Kunst und Design studierte und als Malerin mit ihrem Mops Nancy und ihrem Freund in London lebt, entwirft frostige Bilder vor den Augen der Leserin. Die Kälte und Kargheit der Landschaft werden sicht- und fühlbar, aber auch ihre Grausamkeit. Die blutigen Kämpfe der Seebärbullen, der unerträgliche Geruch tausender von Pinguinen werden von Hunt sehr sinnlich beschrieben.

Noch eindringlicher geraten ihr die unterschiedlichen Persönlichkeiten mit ihren jeweiligen Motivationen und Gewissenskonflikten. Die wechselnden Dynamiken und Allianzen in den Teams und die steigende Spannung über den Ausgang der Expeditionen sorgen für ein aufregendes Leseerlebnis.

Raffiniert spiegelt die Autorin diese beiden Ereignisse immer stärker gegeneinander, indem sie die Kapitel verkürzt, Satzfetzen aus der einen Expedition einer Teilnehmerin der anderen in den Mund legt.

Zwei Jahre hat Hunt an diesem Roman geschrieben, den sie sorgfältig recherchiert hat. Wichtige Quellen waren für sie die Tagebücher von Robert Falcon Scott und "Südwärts von Ernest Henry Shackleton.
Dem Buch ist diese genaue Auseinandersetzung mit dem Sujet anzumerken.

Der Leserin bleibt zum Schluss auch weiterhin die Frage, wie weit sie gehen würde, um sich selbst zu retten? Warm eingekuschelt in einer dicken Wolldecke lässt sich darüber trefflich nachdenken.

AVIVA-Tipp: In ihrem neuen und spannenden Roman stellt Rebecca Hunt vor der eisigen Kulisse der Antarktis wesentliche Gewissensfragen. Ein Muss für kalte, ja, eisige Winterabende.

Zur Autorin: Rebecca Hunt 1979 in Coventry geboren, hat an der Londoner Hochschule Central Saint Martin´s College Kunst und Design studiert. Ihr erster Roman "Mr. Chartwell" (2010; dt. 2012) stand auf der Longlist des Guardian First Book Award und auf der Shortlist des Galaxy National Book Award, ihr zweiter Roman "Everland" kam auf die Shortlist des Encore Award 2014. Sie lebt als Schriftstellerin und Malerin in London.

Zur Übersetzerin: pociao, eigentlich Sylvia de Hollanda, bekannt als "pociao", wurde 1954 in Köln geboren. Sie ist literarische Übersetzerin, Schriftstellerin und Verlegerin. Nach längeren Aufenthalten in London und New York studierte sie Germanistik, Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn. Sie übersetzte u.a. Texte von Laurie Anderson, Jane Bowles, Patti Smith und Evelyn Waugh. Sie lebt in Bonn und Tanger.

Rebecca Hunt
Everland

Originaltitel: Everland (2014)
Aus dem Englischen von pociao
Luchterhand Literaturverlag, erschienen im Juni 2017
Hardcover, 416 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-630-87463-0
Mehr Infos zum Buch finden Sie unter: www.randomhouse.de
Ein Interview mit Rebecca Hunt über ihren Roman "Everland" ist online unter: www.randomhouse.de



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Beitrag vom 20.11.2017

Bärbel Gerdes