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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 06.11.2017


Amy Liptrot - Nachtlichter
Bärbel Gerdes

In ihrem mitreißenden Buch, halb Memoir, halb Nature Writing, berichtet die schottische Journalistin und Schriftstellerin Amy Liptrot von ihrem Ertrinken in Alkohol und ihrer Rettung durch die die wilde Natur der Orkney Inseln. Ausgezeichnet mit dem Wainwright Prize for Fiction for Best Nature and Travel Writing, und dem PEN Ackeley Prize.




Im äußersten Nordwesten Schottlands, erreichbar nur durch eine wilde Schifffahrt über die Nordsee oder mit einem kleinen Flugzeug, liegen die Orkney Inseln. Es ist eine Inselgruppe, die aus ca. 70 kleineren und größeren, unbewohnten und bewohnten Inseln besteht. Ihnen gemein aber ist das rauhe, Wind gepeitschte Klima und die oftmals karge Landschaft.

Hier wuchs die 36jährige Amy Liptrot auf, geprägt durch die manisch-depressive Erkrankung ihres Vaters und der fanatischen Religiosität ihrer Mutter. Ihre Eltern, beide Engländer_innen, waren in den 1970er Jahren Jahren nach Mainland, der Hauptinsel der Orkneys gezogen, um sich dort eine ökologische Farm aufzubauen.

"Mit achtzehn hatte ich es nicht erwarten können, fortzugehen. Ich fand das Leben auf dem Bauernhof schmutzig, hart und schlecht bezahlt. Ich wollte Komfort, Glamour und dort sein, wo etwas los ist." Liptrot zieht nach London und wird sofort mit widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert: während sie auf den Orkneys vom "pulsierenden Stadtleben" träumte, "machte [es] mich wahnsinnig, dass ich in einem Wohnblock nur wenige Meter von anderen entfernt lebte und dennoch nicht wusste, wer sie waren. Über und unter, links und rechts von mir schliefen andere Menschen, nichts als dünne Wände zwischen uns.". Liptrot stürzt sich ins Studium und in das Großstadtleben. Sie wohnt in einer WG und geht mit anderen auf Partys und Feiern, sie wacht verkatert auf. Alles normal für ein Studentinnenleben. Doch das, was mit Wochenenden im Park und dem Gefühl, im Zentrum des Geschehens zu sein, beginnt, ufert aus. Liptrot verliert sich immer mehr im Extrem des Trinkens. Vielleicht wollte sie die Extreme der Inseln nach London holen, mutmaßt die Autorin in einem Interview.

Die Abstürze und Abgründe, die sie von der Landschaft der Orkneys kennt, überträgt sie nun auf die eigenen in London. Sie erlebt Tage, an denen sie verzweifelt versucht, ihr Leben und ihren Job aufrechtzuerhalten, immer in Gedanken beim nächsten Glas. Im Umkreis kennt sie jeden Shop und jeden Kiosk, wo sie auch spätnachts noch Alkohol kaufen kann. Sie bekommt Krämpfe, torkelt von einer Bar in die nächste und wacht in fremden Betten auf. Mit der festen Absicht, niemals auf die Orkneys zurückzukehren, verzehrt sie sich dennoch "nach der Weite des Himmels." "Ich trug das wilde Meer, den endlosen Himmel und den Höhensinn in mir."

Nach zehn Jahren des Trinkens, nachdem ihr Geliebter sie verließ und sie ihre Wohnung und den Job verlor, beginnt sie ein 12-Step-Programm bei den Anonymen Alkoholikern - und kehrt nach diesem schwierigen und schmerzhaften Prozess zurück auf die Orkneys."Auch mich hat es wieder auf diese Insel gespült, seit neun Monaten trocken, erschöpft und blank gescheuert wie ein Kieselstein."

Hier beginnt sie ihr neues Leben, das auch bestimmt ist von den Spuren des alten. Denn während sich die Autorin mit der Natur, der Flora und Fauna, den Gezeiten, dem heftigen Wind auseinandersetzt, nachts den Himmel betrachtet und deutet und sich jeden Samstag mit dem Schwimmclub Orkney Polar Bears ins Meer wirft, begleitet sie das Verlangen nach einem Schluck Wein, einem Glas Bier.

Liptrot wird das Wachtelkönigweib. Im Auftrag der Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) soll sie sämtliche rufenden Männchen des äußerst seltenen und nur nachtaktiven Wachtelkönigs in Orkney lokalisieren. Nacht für Nacht fährt sie hinaus, lauscht, erkundet und liest die Landschaft.

Die Autorin beschreibt das äußere und ihr inneres Geschehen in einer brillanten, oftmals lyrischen Sprache, die von der Übersetzerin Bettina Münch sehr schön und genau übertragen wurde. Sie habe als Journalistin gearbeitet und Zeit ihres Lebens Tagebuch geschrieben, begründet Liptrot ihren Stil.

Die Autorin beschließt, sich noch weiter von der Stadt zu entfernen und zieht im Winter nach Papay, eine der kleinsten bewohnten Inseln. In der Rauheit der Natur reflektiert sie ihr Leben und setzt sich dem Alleinsein aus, auch wenn es riskant ist: "Es wäre der perfekte Ort für ein paar einsame Saufgelage."
Ihre einzige Verbindung ist die, die sie durch das Internet hat. "Ich glaube, ohne Breitbandanschluss hätte ich dort nicht leben wollen", gesteht sie in einem Interview.

Amy Liptrot setzt sich den Winden aus, läuft und schwimmt und kämpft.
Sie nimmt uns mit in die großartige rauhe Landschaft, in die harten Wetter und in die Gischt des Meeres, sie lässt uns die unzählbaren Seevögel sehen und die Robben, die neugierig ihre Köpfe aus dem Wasser recken. Und sie erzählt uns, wie Überleben geht.

AVIVA-Tipp: Amy Liptrots preisgekröntes Memoir kombiniert auf beeindruckende Weise Autobiographie mit dem, was die Brit_innen hervorragend können: Nature Writing. Ein spannendes, berührendes und sprachlich grandioses Werk.

Zur Autorin: Amy Liptrot in den 1980er Jahren auf der Orkney Insel Mainland geboren, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie veröffentlicht u.a. in renommierten Zeitschriften und Zeitungen wie The Guardian und The Scotsman. Ihr Erstlingswerk "The Outrun" (dt. "Nachtlichter") erhielt 2016 den Wainwright Prize for Fiction for Best Nature and Travel Writing, 2017 den PEN Ackeley Prize.
Mehr Info unter: twitter.com/amy_may

Zur Übersetzerin: Bettina Münch, 1962 im hessischen Grünberg geboren, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik in Marburg/Lahn, Southampton, England, und an der Bowling Green State University, USA. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Kinder- und Jugendbuchlektorin. Bettina Münch hat neben anderen Werke von Joseph Boyden, Wally Lamb, Leslie Marmon Silko und V.S. Naipaul ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Bad Vilbel.

Amy Liptrot
Nachtlichter

Originaltitel: The Outrun
Aus dem Englischen von Bettina Münch
btb Verlag, Erschienen im Oktober 2017
Hardcover, 348 Seiten
18,00 Euro
ISBN: 978-3-442-75733-6
Mehr Infos zum Buch, zur Autorin Amy Liptrot, der Übersetzerin Bettina Münch und Lesungsterminen unter: www.randomhouse.de

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Beitrag vom 06.11.2017

Bärbel Gerdes