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Beitrag vom 27.10.2017
Tobias Schwartz, Virginia Woolf - Bloomsbury & Freshwater
Bärbel Gerdes
In "Freshwater", Virginia Woolfs einzigem Theaterstück, erweckt sie ihre Großtante, die Fotografin und Exzentrikerin Julia Margaret Cameron zu neuem Leben und unterhält uns mit einer großen Eselei.
"Das Stück ziemlicher Quatsch, aber ich werde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie ich als Stückeschreiber[in] einen guten Eindruck machen kann." merkt Virginia Woolf am 1. Januar 1935 in ihrem Tagebuch an, um nur wenige Tage später ihre Pläne zur Inszenierung darzulegen: "Ich werde einen Eselskopf mieten, in dem ich den Applaus entgegennehme – um zum Ausdruck zu bringen, Dies ist das Werk eines Esels."
Mit Überlegungen zum Theaterstück, das von Anfang an für eine Aufführung im engsten Freundinnen- und Freundeskreis konzipiert war und nie die große Bühne anstrebte, hatte Woolf bereits 1919 begonnen. Es sollte um Freshwater gehen, jenem Ort auf der Isle of Wight, auf der Julia Margaret Camerons Anwesen "Dimbola Lodge" lag. "Der alte Cameron, in einen blauen Schlafrock gekleidet, der seit 12 Jahren nicht über die Gemarkung seines Gartens hinausgegangen ist [...], geht zum Meer hinab. Dann beschließen sie, nach Ceylon zu reisen, nehmen ihre Särge mit, & das letzte, was man von Tante Julia sieht, ist, wie sie die Gepäckträger auf dem Schiff mit großen Photographien von Sir Henry Taylor & der Muttergottes beschenkt, mangels Kleingeld.", so Virginia Woolf in ihrem Tagebuch am 30. Januar 1919.
Julia Margaret Pattle wurde am 11.6.1815 in Kalkutta geboren. Ihr Vater arbeitete bei der East India Company. Ihre Mutter war Adeline Maria de l´Etang und hatte noch fünf weitere Kinder. Julia und ihre Schwestern verbrachten ihre Jugend bei ihrer französischen Großmutter in Versailles. Die Schwestern galten als charmant und schön, was Virginia Woolf in ihrem Essay über ihre Großtante zu dem Kommentar über eine der Schwestern veranlasste: "auf der Straße wurde sie belästigt, in Oden zelebriert".
1834 kehrte Julia Margaret nach Indien zurück, wo sie 1838 den zwanzig Jahre älteren Charles Hay Cameron heiratete. Zehn Jahre später kehrten sie nach Großbritannien zurück. Sie bekam sechs Kinder und zog fünf weitere Kinder von Verwandten auf. Sie nahm ein irisches Mädchen zu sich, das sie bettelnd auf der Straße gefunden hatte. Ihr Leben drehte sich um den Haushalt und um Gesellschaften, wobei sie gleichzeitig eine vollkommene Exzentrikerin war: "In Gewändern aus wallendem roten Samt gekleidet, begleitete sie ihre Freunde bei heißem Sommerwetter den halben Weg zum Bahnhof und rührte, während sie dahinspazierte, in einer Tasse Tee." Sie lud eine Familie, die sie auf einer Fähre kennengelernt hatte zum Lunch ein, ohne ihre Namen zu kennen oder bat eine hutlose Touristin, die sie am Kliff getroffen hatte, zu sich nach Hause, um einen der ihren auszusuchen. Sie übersetzte aus dem Deutschen und schrieb Gedichte und einen Roman, um einen, so Woolf "beständigeren Ausdruck ihrer im Überfluss vorhandenen Energien" zu entwickeln.
Alles veränderte sich, als Cameron 1863 von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn eine Kamera geschenkt bekam. Ihre ersten Fotografien, die sie durch Trial and Error schoss, waren oft unscharf und schemenhaft – das machte Cameron zu ihrem Markenzeichen, denn sie bestand darauf, dass dies Ausdruck ihres künstlerischen Stils sei. "Ihr Ziel war es, den Realismus dadurch zu überwinden, das sie den Grad der Bildschärfe bis zur letzten Stufe verringerte." Der Kohlenkeller wurde zur Dunkelkammer, der Hühnerstall zum Atelier.
Cameron wurde mit ihren inszenierten Porträts und religiös-literarischen Bildern zur bekanntesten Fotografin des Viktorianischen Zeitalters. Sie fotografierte Tischler und Kronprinzen, Schriftstellerinnen und das irische Mädchen, das sie zu sich genommen hatte und scherte sich dabei wenig um die Leiden ihrer Modelle. Stundenlang sollten sie in quälenden Posen verharren, drapiert mit Flügeln oder Umhängen oder schmerzhaften Accessoires, wie die Weltreisende Marianne North erfahren musste. "Sie ließ mich mit dornigen Kokoszweigen, die mich in den Kopf stachen, Modell stehen ... und bat mich, dabei ganz natürlich auszusehen."
Julia Margaret Cameron starb drei Jahre, bevor Virginia Woolf geboren wurde. Obwohl sie sie also nie kennengelernt hatte, war Woolf fasziniert vom exzentrischen Leben ihrer Großtante.
Zur Feier des sechzehnten Geburtstags von Angelica, Tochter von Woolfs Schwester Vanessa Bell, wurde Freshwater, die Eselei, die sich um Cameron und ihre Freundinnen und Freunde dreht, uraufgeführt. In den Rollen: einige Mitglieder der Bloomsbury Gruppe. Woolf selbst soufflierte und trug besagten Eselskopf.
Mit dem vorliegenden Buch, das vom kleinen Berliner AvivA-Verlag wieder ganz besonders ausgestattet wurde – ein kräftiger Einband mit der schelmisch blickenden Virginia Woolf auf dem Cover, ein Stadtplan Londons, der den Vorsatz bildet, und angenehm riechendem Papier – liegt das Theaterstück erstmals in deutscher Sprache vor.
Eingebettet ist Freshwater in das Theaterstück Bloomsbury von Tobias Schwartz, der Woolfs Text auch übersetzt hat. Der Dramatiker wählte hierzu die Vorbereitungen zur Aufführung des Stückes. Während die Schauspieler_innen einen scherzhaften Smalltalk führen, sucht eine BBC-Reporterin Gesprächspartner_innen. Sie möchte mehr über Bloomsbury erfahren und interviewt Leonard Woolf, Vanessa Bell, John Maynard Keynes und andere kurz vor der Premiere. Schwartz montierte für seinen Text Zitate Woolfs aus ihren Tagebüchern und Briefen.
Die Leserin erfährt so sehr viel über diese Gruppierung und lernt die Protagonist_innen kennen, doch wirkt dies oft etwas sehr bemüht.
Der AvivA-Verlag hat den Band mit dem besagten Essay von Virginia Woolf, mit einem Nachwort von Klaus Reichert, Herausgeber der Werke Woolfs beim Fischer-Verlag, sowie mit einem ausführlichen Glossar angereichert.
Freshwater ist eine komödiantische Auseinandersetzung mit den Zwängen der Woolf´schen Familiengeschichte und der Viktorianischen Gesellschaft.
Hier und in ihrem 1926 geschriebenen Essay über ihre Großtante zeigt sich Woolf als die, die sie ist und als die sie viel zu wenig wahrgenommen wird: eine äußerst scharfsinnige und -züngige, eine überaus witzige und eine die Albernheit liebende Frau.
AVIVA-Tipp: "Freshwater, eine Farce – ein Scherz", nannte Virginia Woolf selbst ihr Stück. "Die Späße in Freshwater...", so Hermione Lee in ihrer verdienstvollen Woolf-Biographie, "setzen viktorianisches Fühlen [...] gegen die Freiheiten und die sexuelle Offenheit Bloomsburys." Ein Muss für jede Woolfianerin!
Zur Autorin: Virginia Woolf, geboren am 25. Januar 1882 in London, gestorben am 28. März 1941 bei Rodmell in Lewes. Nach dem Tod der Eltern bezog sie gemeinsam mit ihren Geschwistern 1905 ein Haus im Londoner Stadtteil Bloomsbury, wo sich aus Zusammenkünften im Freundes- und Bekanntenkreis in den Folgejahren die legendäre Bloomsbury Group entwickelte.
Woolf schrieb zunächst für verschiedene Zeitungen und unterrichtete Englische Literatur und Geschichte am Londoner Morley College. 1912 heiratete sie Leonard Woolf, mit dem sie bis zu ihrem Tod zusammenlebte. Gemeinsam gründeten sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. 1922 lernte sie Vita Sackville-West kennen, mit der sie später eine dreijährige Liebesbeziehung und eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.
Woolf litt ihr Leben lang an wiederkehrenden schweren Depressionen, 1941 nahm sie sich das Leben.
Woolf war eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen, Kritikerinnen und feministischen Denkerinnen der Moderne. Zu ihren Werken gehören "Mrs Dalloway" (1925), "Zum Leuchtturm" ("To the Lighthouse", 1927), "Orlando" (1928) und "Die Wellen" ("The Waves", 1931). Ihre feministischen Essays "Ein Zimmer für sich allein" ("A Room of One´s Own", 1929) und "Drei Guineen" ("Three Guineas", 1938) wurden im Zuge der Neuen Frauenbewegung der Siebziger Jahre neu entdeckt.
Virginia Woolf Society of Great Britain:
www.virginiawoolfsociety.co.uk
Tobias Schwartz, 1976 geboren in Osnabrück, ist Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. 2007 veröffentlichte er seinen Debüt-Roman "Film B" (Satyr Verlag). Seine Theaterstücke erscheinen im Per H. Lauke Verlag und wurden an verschiedenen deutschen Bühnen uraufgeführt und gespielt. Als freier Autor schreibt er für verschiedene Zeitungen und Magazine und publizierte mehrere Artikel über Virginia Woolf, unter anderem in der Literarischen Welt und in der taz. (Verlagstext)
Tobias Schwartz / Virginia Woolf
Bloomsbury & Freshwater
Mit dem Essay "Julia Margaret Cameron" von Virginia Woolf und einem Nachwort von Klaus Reichert.
AvivA-Verlag, erschienen im September 2017
Gebunden, 144 Seiten
ISBN 978-3-932338-92-2
18.00 Euro
www.aviva-verlag.de
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www.fembio.org