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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.05.2017


Gitta Seiler - Die Frau im gelben Gewand
Hai-Hsin Lu

Mit intensiven Portraitfotografien und flüchtigen Momentaufnahmen gelingt es der Fotografin und Trägerin des Reinhart-Wolf-Preises für Fotografie, Gitta Seiler, eine neue Generation von jungen Chinesinnen in Peking abzubilden. Ein sozialkritisches Werk, das seine Kraft aus dem Alltäglichen zieht.




Eine junge Frau blickt den Betrachtenden entgegen. Sie hat langes, gepflegtes Haar mit rötlicher Tönung und goldlackierte Fingernägel. Hohe Stiefel und eine kurze Jeanshose betonen ihre schlanken Beine. Sie wirkt schüchtern, zugleich ist der Blick in ihren geschminkten Augen intensiv.

Die Fotografin Gitta Seiler hielt sich im Herbst 2011 im Rahmen des Residenzprogramms des Goethe-Instituts in Peking auf. Dort entstand eine Vielzahl an Fotografien von jungen Frauen – mit geschärftem Blick fing sie eine neue Generation an Chinesinnen in Portraits und Momentaufnahmen ein. Sie sind beim Einkaufen zu sehen: Hochhackige Schuhe werden anprobiert, modische Brillen und opulente Armbänder. Aber auch Frauen bei der Arbeit wurden portraitiert: Ob als Kosmetikerin, im strengen Hosenanzuge oder als Masseurin.

Eine neue Generation von Chinesinnen

Es ist kein Zufall, dass Seilers künstlerisches Interesse der Frau in China zukam. Das Land hat ein Jahrhundert an rapiden, teils gewaltsamen Transformationen durchlebt. Seit den 1980er Jahren zeichnete sich eine graduelle Öffnung des sozialistischen Staates ab, die mit fortschreitender Industrialisierung und beschleunigtem wirtschaftlichem Wachstum untermauert wurde.

An der patriarchalen Gesellschaftsordnung änderte dies jedoch wenig – die Präferenz von männlichen Nachkommen, die den Familiennamen "weitertragen" und die Erblinie erhalten, führte unter der Ein-Kind-Politik zu massiver Abtreibung weiblicher Föten. Geschlechtsbezogene Diskriminierung ist dementsprechend schon in die Familienstrukturen eingebettet. Obwohl in China die Frauenerwerbsquote im internationalen Vergleich sehr hoch ist und eine neue Generation an berufstätigen Frauen aus der Mittelschicht heranwächst, sind die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land nach wie vor erheblich.

"Begehrenswerte" Ehemänner

In Mitten dieser Turbulenzen finden sich Gitta Seilers Fotografien wieder. Die Pekinger Frau, zwischen neuen Freiheiten, Konsummöglichkeiten und sexistischen Erwartungen der Gesellschaft gefangen, schaut anonym, ohne das übliche, verzierende Lächeln in die Kamera.

Diese Frau muss erfolgreich sein, aber nicht zu erfolgreich – sonst würden potentielle Ehemänner abgeschreckt. Diese Frau muss immer attraktiv sein, anschmiegsam und passiv. Sie muss ihre Weiblichkeit zur Schau stellen, aber dennoch keusch wirken. Tilman Spengler, der die Nachschrift des Bilderbands verfasste, zeichnet ein eindrucksvolles Bild von der Frau im gelben Gewand, die er "Kelly" nennt. Kellys Großmutter, die "Alte Wang" ist während der Kulturrevolution aufgewachsen, und findet die neuen Modetrends befremdlich. Sie sprechen über begehrenswerte Ehemänner, über die unterschiedlichen Erwartungen, damals und heute.

"Überzählige" Frauen – Einzigartige Frauen

Was die junge Kelly und ihre Großmutter, die "Alte Wang" jedoch eint, ist die drückende Frage nach einem Mann, die fortwährende Unterdrückung der Ehe. Der Neologismus der "Leftover Women", bzw. "überzählige Frauen", ist ein Indikator für die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft. Wenn eine Frau das Alter von dreißig Jahren überschritten hat und noch keine Heirat eingegangen ist, ist sie "überzählig". Und das, obwohl durch die jahrzehntelange Präferenz von männlichen Föten die männliche Bevölkerung klar im Überschuss, das heißt, "überzählig" ist.

Die jungen Frauen, die uns in Gitta Seilers Bilderband entgegen blicken, präsentieren allein vom Äußeren eine große Vielfältigkeit – Frauen, die womöglich Karrierewünsche haben, spezifische Interessen und Träume. Den Betrachtenden ist es überlassen, die Menschlichkeit wiederzufinden, die den Frauen durch gesellschaftliche Diskriminierung abgesprochen wird.

AVIVA-Tipp: Mit großer Detailliebe und einem ruhigen Blick hat Gitta Seiler die Darstellung von Weiblichkeit in der chinesischen Gesellschaft eingefangen. In der schlichten Darstellung einzelner, anonymer Frauen ist die Leserin dazu ermutigt, einen kritischen Umgang mit den Abgebildeten zu finden, sie in ihrer Individualität, ihrer Menschlichkeit zu erkennen. Zugleich liefert die Nachschrift von Tilman Spengler eine Kontextualisierung – es sind die angeblich "überzähligen" Frauen, denen wir ins Gesicht schauen.

Zur Autorin: Gitta Seiler, geboren 1967 in Metzingen, studierte Fotografie bei Arno Fischer an der Fachhochschule Dortmund. Sie setzte ihre Ausbildung in St. Petersburg und Sao Paulo fort und erlangte 1998 ihr Diplom. Neben ihrer fortwährenden freiberuflichen Tätigkeit lehrte sie zwischen 2007 und 2011 als Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. Sie ist u.a. Trägerin des Reinhart-Wolf-Preises für Fotografie und Stipendiatin des "Grenzgänger China-Deutschland Stipendium 2015" der Robert Bosch Stiftung.
2011 veröffentlichte Gitta Seiler ebenfalls im Kehrer Verlag den Bildband "über mädchen", in dem sie fotografisch die Emotionen von Mädchen in scheinbar ausweglosen Situationen greifbar macht.
Heute lebt und arbeitet Gitta Seiler in Berlin und ist Gründungsmitglied der Schule und Galerie Fotografie am Fischbauerdamm und Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie.
Weitere Informationen und Kontakt unter:
www.gittaseiler.com

Gitta Seiler
Die Frau im gelben Gewand

Kehrer Verlag, erschienen: Oktober 2016
Gebunden, 103 Seiten, 29 Farb- und 39 S/W-Abbildungen
Sprachen: Chinesisch, Deutsch, Englisch
ExtraGestaltung, Margarethe Hausstätter
Texte: Tilman Spengler
ISBN 978-3-86828-734-9
Preis: € (D) 35,00
Mehr Infos zum Buch von Gitta Seiler finden Sie unter: www.kehrerverlag.com

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Beitrag vom 25.05.2017

AVIVA-Redaktion