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Beitrag vom 24.05.2017
Zwiegespräche – Zeichnungen und Aquarelle Maria Lassnigs. Bildband zur Retrospektive in der Albertina in Wien vom 5. Mai bis 27. August 2017
Lisa Baurmann
Maria Lassnig gilt heute als eine der bedeutendsten europäischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, sicher jedoch als die bedeutendste Malerin Österreichs. Mit ausgewählten Zeichnungen und Aquarellen eröffnen...
... die Wiener Ausstellung und der zugehörige Bildband eine neue Perspektive auf ihr beeindruckend facettenreiches Werk.
Maria Lassnig malte und zeichnete überwiegend Selbstportraits. Keine minutiösen, realistischen Studien ihres Gesichts, auch keine Inszenierungen des Selbst mit Maske und Requisite. Die 2013 im Alter von 94 Jahren verstorbene Künstlerin taufte ihre eigenen Werke "Körpergefühlszeichnungen": Das bedeutete für sie, dass sie die vielfältigen Eindrücke der Sinnesorgane während des Entstehungsprozesses im Bild festhielt. Einzelne Merkmale ihres Gesichts und Körpers sind dementsprechend vergrößert, verkleinert, verzerrt oder weggelassen. Was wie bewusste Verfremdung anmutet, war für Lassnig dagegen eine andere Art der Wahrnehmung:
"Was als Deformierung der Realität erscheint, ist keine, weil die Realität auf einer anderen Ebene, der Gefühlsebene, stattfindet."
Gefühls- und Gedankenfarben
Immer wieder arbeitete Lassnig in Ölbildern, Aquarellen und auch in mit Gouachen ummalten Zeichnungen mit Farben, die die dargestellte Gefühlswelt unterstreichen. Sie selbst beschrieb ihre beeindruckende Palette so:
"Die Stirne bekommt eine Gedankenfarbe, die Nase eine Geruchsfarbe, Rücken, Arme und Beine Fleischdeckenfarbe, es gibt Schmerzfarben und Qualfarben, Nervenstrangfarben, Druck- und Völlefarben, Streck- und Preßfarben, Höhlungs- und Wölbungsfarben, Quetsch- und Brandfarben, Todes- und Verwesungsfarben, Krebsangstfarben – das sind Wirklichkeitsfarben."
Von innen nach außen schauen
Was die 1919 im österreichischen Kärnten geborene Künstlerin mit ihrer Art des Abbildens schon in den späten 1940er Jahren begann, war eine Umkehrung der tradierten Rollenverteilung in der Malerei. Wo traditionell der weibliche Akt zum Objekt des männlichen Voyeurismus durch Künstler und Betrachter wird, allzu oft namenlos, austauschbar, ohne Stimme, wandte Lassnig die Betrachtungsrichtung von innen nach außen: Ihre Gefühls- und Gedankenwelt fließt in den abgebildeten weiblichen Körper, sodass dieser nicht mehr bloßes Betrachtungsobjekt ist, sondern auf eine intime und direkte Weise zu den Betrachter_innen spricht. Damit leistete sie die Arbeit einer Pionierin auf dem Feld der Auseinandersetzung mit Körper und Geschlechterverhältnissen, die feministische Künstler_innen seit den 1970er Jahren aufgreifen.
"Ein Aquarell ist wie eine Liebesbeziehung"
Die Zeichnungen und Aquarelle, die für den Bildband ausgewählt worden sind, sprechen oft noch eine zusätzliche Sprache, insofern ihnen von Lassnig, meist mit Bleistift, Titel und Textzeilen eingeschrieben worden sind. Die Worte helfen oft, die Werke zu deuten, manchmal geben sie ihnen auch einen ironischen Kontext. Ein Blatt aus dem Jahr 1989 etwa, das undeutliche Formen in vornehmlich rot-violetten Aquarelltönen zeigt, ist überschrieben mit "Ein Aquarell ist wie eine Liebesbeziehung: Nachträgliche Verbesserung unmöglich". Im Vergleich zu den Ölgemälden entsteht hier also eine noch direktere Beziehung zur Betrachterin, da die Künstlerin gleich auf zwei Ebenen zu ihr spricht. In Wortwahl und Stil der Zeilen wird offenbar, dass Lassnig sich nicht nur mit dem Zeichnen, sondern auch eingehend mit dem Schreiben beschäftigt hat.
Einblick in den künstlerischen Prozess
Den Effekt der sprachlichen Mitteilungen verstärkt die Gestaltung des Bildbands noch, indem den Tafeln mit Einzelwerken oder Serien jeweils geschickt gewählte Zitate der Künstlerin gegenübergestellt sind. Diese lassen sich teils auf die jeweiligen Werke beziehen und geben ihnen zusätzlichen Kontext, aber vor allem lassen sie einen tiefen Einblick in die künstlerische Herangehensweise Maria Lassnigs zu. Die Textbeiträge von Antonia Hoerschelmann, Anita Haldemann und Barbara Reisinger bieten eine zusätzliche, aufschlussreiche Einordnung der abgebildeten Werke in die verschiedenen Schaffensperioden und Lebensabschnitte der Künstlerin sowie ein Analyse ihres Schaffensprozesses. Im Interview mit Ralph Ubl setzt die Malerin Miriam Cahn Lassnigs Werk zu den eigenen Arbeiten und zu feministischen Strömungen in der Kunst in Beziehung.
Retrospektive bis zum 27. August in Wien
Insgesamt 80 ausgewählte Zeichnungen und Aquarelle aus dem Lebenswerk der Künstlerin sind vom 5. Mai bis zum 27. August 2017 in der Albertina in Wien ausgestellt. Die Retrospektive und der zugehörige Bildband tragen den Titel "Maria Lassnig – Zwiegespräche" und sind in Kooperation mit dem Kunstmuseum Basel entstanden, das die Ausstellung seinerseits ab Mai 2018 beherbergen wird.
AVIVA-Tipp: Bis ins hohe Alter zeichnete und malte Maria Lassnig unermüdlich ihre vielschichtigen, fesselnden Selbstbildnisse. Der Bildband lässt die Künstlerin mit feinfühlig ausgewählten Werken und Zitaten für sich sprechen und bietet so einen ausgezeichneten Einblick in ihr Schaffen.
Zur Künstlerin: Maria Lassnig wird 1919 in Garzern im österreichischen Kärnten geboren. Zunächst wird sie Volksschullehrerin in Klagenfurth. 1940 bis 1945 studiert sie Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien. In den frühen 1950er Jahren ist sie Mitglied des Wiener Art Club und der Hundsgruppe. 1960 zieht sie nach Paris, wo sie sich verstärkt mit dem Tachismus auseinandersetzt. Im Jahr 1968 folgt ihr Umzug nach New York, das bis 1980 ihre Wahlheimat bleiben sollte. In den USA wendet sie sich zunehmend dem Realismus zu und erforscht neue Techniken wie Siebdruck und Filmanimation. Hier entsteht der Preisgekrönte Trickfilm "Selfportrait" und Lassnig wird Mitbegründerin der "Women/Artist/Filmmakers, Inc." 1980 vertritt sie Österreich gemeinsam mit VALIE EXPORT bei der Biennale in Venedig und wird an die Wiener Hochschule für angewandte Kunst berufen. Bis 1989 ist sie dort Leiterin der Meisterklasse für Gestaltungslehre – Experimentelles Gestalten mit dem Schwerpunkt Malerei und Animationsfilm. 1988 wird Lassnig der Große Österreichische Staatspreis im Bereich Bildende Kunst verliehen, der damit erstmals an eine Frau geht. Seit den 2000er Jahren wird ihr zunehmende internationale Anerkennung zuteil, die sich in zahlreichen Preisen und Auszeichnungen sowie Einzelausstellungen in Österreich, Deutschland, London und New York äußert. 2002 erhält sie als erste Künstlerin den Rubenspreis der Stadt Siegen. Für ihr Lebenswerk wird ihr im Jahr 2013 wird ihr der Goldene Löwe der Biennale Venedig verliehen. Am 6. Mai 2014 verstirbt Maria Lassnig im Alter von 94 Jahren in Wien. Auf ihren Tod folgen Retrospektiven in Barcelona, Liverpool, New York, Wien, Aalborg, Essen, Florenz, Athen und Prag.
Mit Maria Lassnigs posthum zunehmendem Bekanntheitsgrad ist auch ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus in Österreich während ihrer Studienzeit diskutiert worden. In Nachrufen wurde teilweise behauptet, dass ihre Malerei als "entartete Kunst" galt und sie aus diesem Grund die Akademie verlassen musste. Aus historischen Dokumenten geht jedoch hervor, dass sie 1945 regulär ihren Abschluss machte und sowohl als Studentin als auch als Absolventin mit Stipendien gefördert wurde. Maria Lassnig selbst hat sich 2006 gegenüber der Kleinen Zeitung über ihre Probleme mit dem unter den Nationalsozialist_innen vorherrschenden Kunstverständnis sowie Gefahren durch ihre freundschaftliche Beziehung zu einem französischen "Fremdarbeiter" geäußert, dabei aber deutlich gemacht: "Ich bin keine Verfolgte, wirklich nicht."
Mehr Informationen zu Maria Lassnigs Werken und kommenden Ausstellungen:
www.marialassnig.org
Maria Lassnig – Zwiegespräche
Texte von Antonia Hoerschelmann, Anita Haldemann, Barbara Reisinger
Mit einem Interview von Ralph Ubl mit Miriam Cahn
Hrsg. Antonia Hoerschelmann und Anita Haldemann
Hirmer Verlag, erschienen: Mai 2017
Gebunden, 240 Seiten, 159 Abbildungen
Sprache: Deutsch und Englisch
ISBN: 978-3-7774-2832-1
Preis: 39,90 Euro
www.hirmerverlag.de
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So viel Energie - Künstlerinnen in der dritten Lebensphase
Hanna Gagel zeigt das Spätwerk von 16 Künstlerinnen, die bis ins hohe Alter hinein neue Ansätze in ihrer Kunst fanden. Maria Lassnig, Marianne Werefkin, Käthe Kollwitz, Helen Dahm und viele mehr werden kurz in ihrer künstlerischen Entwicklung vorgestellt, bevor die kreative Arbeit der späten Jahre eingehend erläutert wird. (2005)