Ali Smith - Freie Liebe und andere Geschichten und Ali Smith - Ganz andere Geschichten - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 24.05.2017


Ali Smith - Freie Liebe und andere Geschichten und Ali Smith - Ganz andere Geschichten
Ahima Beerlage

Ihre Romane haben bereits eine große Fangemeinde in Deutschland. Jetzt erscheinen die bereits 1995 preisgekrönten Kurzgeschichten der schottischen Autorin auf dem deutschsprachigen Markt. Dabei gelingt es Ali Smith...




... mit feiner Feder, scheinbar alltägliche Szenen auf kleinstem erzählerischen Raum in eindringliche und eigenwillige Abenteuer zu verwandeln.

In zwölf Begegnungen führt Ali Smith ihre überwiegend weiblichen Handelnden aus ihrem gewohnten, überschaubaren Alltag in unbekannte neue Gefilde – und mit ihnen die Lesenden.

Befreiende Perspektiven

Gleich in der ersten Geschichte "Freie Liebe" sind die Lesenden gefordert, gewohnte Denkmuster zu verlassen. Das Ich der Geschichte macht sich auf in das Rotlichtviertel von Amsterdam, um zum ersten Mal bezahlten Sex zu haben. In den meisten Köpfen entsteht sofort ein Bild. Ein Mann trifft auf eine Prostituierte und erlebt hastigen, unpersönlichen Sex. Doch nicht so bei der schottischen Erfolgsautorin Ali Smith. Das handelnde Ich ist eine Frau, die sich nach ihrem Erlebnis mit der Hure befreit und wohl fühlt. "Ich schob das Rad also zur Jugendherberge zurück, vorbei an den mit Laub gesprenkelten Kanälen, in denen die Spiegelbilder der hohen Gebäude schwappten, und fand, dass das Leben voller Wunder war, voller Möglichkeiten." Auch in der folgenden "Geschichte vom Falten und Entfalten" werden Lesegewohnheiten gebrochen. Ein alter Mann aus der Kriegsgeneration verliert seine Partnerin. Aber er trauert nicht in tragischer Würde. "Neben den Unterhosen, die wie freundliche Farbtupfer um ihn herumliegen, sieht er ganz deplaciert aus, wie ein Bauernbursche in einem Roman von Thomas Hardy, der ein Mädchen anschmachtet, das er nicht haben kann und dem er auf dem mit Wiesenblumen übersäten Hang nur die eine hinhält, die er gepflückt hat, weil er nicht weiß, was er sagen soll." Unterhosen hatten eine Rolle gespielt, als er seine Frau während des Krieges kennengelernt hatte und mit der er sich mehr durch Zufall verlobt hat. In "Text für den Alltag" befreit sich eine Frau, die bisher ihre Sicherheit zwischen Buchdeckeln fand, aus der erdrückenden Bücherflut, in dem sie jede gelesene Seite aus dem jeweiligen Buch reißt und dort fallen lässt, wo sie sich gerade befindet. Sie trägt die Texte buchstäblich in den Alltag und verbindet sie und sich mit allen Aspekten des Lebens – bis hin zum Rinnstein und den Abwasserkanälen.

Ehrlichkeit bis zur Schmerzgrenze

Eine Künstlerin erlebt eine kurze, aber heftige Affäre als ein lustvolles Intermezzo, das schnell verglüht. "Wir fraßen uns gegenseitig auf, spieen uns gegenseitig mit Wollust aus, ein klebriges Geschöpf, mehrmals am Tag waren wir Gott, erschufen uns gegenseitig. Natürlich konnte das nicht ewig so gehen. Natürlich tat es das nicht." Eine Platzanweiserin im Kino verliert sich in der Dramaturgie der Filme und würde "am liebsten…die ganze Woche so verbringen, bei Musik, die einem sagt, wann man etwas fühlen soll und was" und ihr Gegenüber, das sie, die Kartenabreißerin, aus der Distanz liebt, voller Angst, dass die Realität die Illusion von ihr zerstören könnte. Ein Besuch auf einer griechischen Insel, die früher zur Isolierung von Leprakranken gedient hat, löst bei der Touristin erst gruselige Sensationslust und später Alpträume aus.

Filigrane Miniaturwelten

Diese und alle weiteren Geschichten entwickeln sich aus scheinbar alltäglichen Situationen und enden mit minimalen Verschiebungen in einer neuen Realität. Es ist, als übertrage sich Energie zwischen den Figuren und schiebe sie in eine neue Richtung.

Mit feinem Pinsel

Ali Smith, deren Romane schon durch ihre Scharfsichtigkeit und die ausgeprägte Bildersprache aufgefallen sind, erhebt diesen sprachlich feinen Pinselstrich in ihren Kurzgeschichten zur Meisterinnenschaft. Während Romane sich Zeit lassen können, Charaktere zu entwickeln, muss die Kurzgeschichte Mensch und Situation in wenigen Worten portraitieren. Meist hilft es den Schreibenden, auf Klischees zurückzugreifen. Nicht so Ali Smith. Ihre Geschichten spielen äußerlich im banalen Alltag, bewegen sich aber innerlich auf neuen Wegen. Selbst Tod und Abschied laufen in ihren Geschichten nicht auf die üblichen, reflexartigen Rituale hinaus. Banale Orte gewinnen eine neue Würde und so kann selbst eine Bordsteinkante zwischen Autos und dem Geruch von Öl zum Ruhepunkt werden.

Kurzgeschichten genießen im deutschen Sprachraum leider nicht die Anerkennung, die sie verdient hätten. Leserinnen, die bisher wenig mit Kurzgeschichten anfangen konnten, finden in Ali Smiths Geschichten einen erfreulichen Anlass, ihre Meinung zu ändern. Ebenfalls im btb Verlag von Ali Smith neu erschienen (9. Mai 2017) ist der Kurzgeschichtenband "Ganz andere Geschichten". Auch hier kreiert sie aus Alltagssituationen Geschichten "voller Menschlichkeit und Zärtlichkeit, Witz und Lebenslust" (btb).

AVIVA Tipp: In einer Zeit, in der Serien- und Filmdramaturgie auch die Erzählwelt von Sachreibenden beeinflusst, sind die Geschichten von Ali Smith wie kleine unauffällige Medaillons, die die Lesenden aufklappen müssen, um das filigrane, außergewöhnliche Bild darin zu entdecken. Ali Smith entfaltet ihre außergewöhnliche Sprachsensibilität, die ihr verdientermaßen zahlreiche Preise eingebracht hat. Einfühlsam übersetzt von Silvia Morawetz.

Zur Autorin: Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht, ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Für ihr Debüt »Freie Liebe und andere Geschichten« wurde sie 1995 mit dem Saltire First Book Award ausgezeichnet. Inzwischen hat sie zahlreiche weitere renommierte Preise erhalten, zuletzt 2015 den Baileys Women´s Prize for Fiction. All ihre Bücher widmet Ali Smith ihrer Lebenspartnerin Sarah Wood, mit der sie seit über 20 Jahren zusammen lebt. (Quelle: Random House)

Zur Übersetzerin Silvia Morawetz: geb. 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und ist die Übersetzerin von u.a. Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.



Ali Smith
Freie Liebe und andere Geschichten

Originaltitel: Free Love and Other Stories
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Originalverlag: Virago PressRoman
Verlagsgruppe Random House, btb, erschienen 13.03.2017
Euro 9.99
ISBN 978-3-442-71355-4
www.randomhouse.de



Ali Smith
Ganz andere Geschichten

DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Originaltitel: Other Stories and Other Stories
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Originalverlag: Granta Books
Taschenbuch, Broschur, 160 Seiten, 11,8 x 18,7 cm, 1 s/w Abbildung
ISBN: 978-3-442-71356-1
Euro 10,00
Verlagsgruppe Random House, btb, erschienen: 09.05.2017
www.randomhouse.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Ali Smith - Von Gleich zu Gleich
Von der Autorin des mit dem Whitbread Award ausgezeichneten Romans "Die Zufällige". Wer ist diese Amy Shone, die Engländerin, die mit ihrer kleinen Tochter Kate zurückgezogen in einem schottischen Trailer Park lebt? Sie erzählt nichts von ihrer Vergangenheit, sie kann weder lesen noch schreiben und schlägt sich trotz ihrer wohlhabenden Familie am Rande des Existenzminimums durch. (2014)

Ali Smith. Girl meets boy - Der Mythos von Iphis
Die Geschichte einer und mehrerer Lieben. Wunderbar leichtfüßig thematisiert die Autorin die Frage nach dem, was ein Geschlecht eigentlich ausmacht. Voller Kraft und Witz! (2008)

Ali Smith - Im Hotel
Nach "Die Zufällige" erneut ein brillanter Roman von Ali Smith. "Im Hotel" zeichnet verstörend schöne Bilder des Gefühlslebens von fünf Frauen auf. Vier lebende und der Geist einer Verstorbenen begegnen einander. (2008)

Ali Smith – Die Zufällige
Amber ist leuchtend aber undurchschaubar – gleich einem Bernstein. Der Roman spielt mit den gängigen Rollenklischees einer relativ normalen Familie und durchbricht sie schneller, als erwartet...(2007)


Literatur

Beitrag vom 24.05.2017

Ahima Beerlage