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Beitrag vom 14.05.2017
Sabine Bode - Das Mädchen im Strom
Helga Egetenmeier
Eine vielschichtige Biographie im Kontext von Flucht, Migration und Holocaust entwirft die Sachbuchautorin Sabine Bode in ihrem Debütroman. Sie beginnt in der Jugend ihrer jüdischen Protagonistin Gudrun Samuel, die im Mainz der 1920/30er Jahre...
... ihr Leben unbeschwert und frisch verliebt genießt. Doch die glückliche Zeit zerbricht am aufkommenden Nationalsozialismus.
Seit fast zwanzig Jahren schreibt Sabine Bode über, wie sie es nennt, "stille Themen": Trauer, Demenz, Altern, Kriegserfahrungen und deren generationenübergreifende Auswirkungen. Bekannt wurde sie durch ihr Sachbuch "Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen" (2004), in dem sie die Traumatisierungen der in Deutschland zwischen 1930 und 1945 Geborenen Tätergeneration aufgreift. Im auflagenstarken Nachfolgebuch "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation" (2009) betrachtet sie anhand von Interviews die transgenerationalen Auswirkungen auf deren Kinder.
Kriegserfahrungen und die Folgen stehen auch im Mittelpunkt ihres Debütromans "Das Mädchen im Strom". Bode beschreibt darin, wie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg in das Leben ihrer jüdischen Protagonistin Gudrun Samuel eingreifen und fortan deren persönliche Entwicklung bestimmen. Ohne sie als Ich-Erzählerin einzusetzen, beschreibt die Autorin deren Lebensgeschichte von deren Jugend bis zum Rentenalter aus ihrem subjektiven Blickwinkel.
Die Lebensstationen der Gudrun Samuel
Mit der glücklichen und unbeschwerten Jugend eines Teenagers, deren bürgerliche Eltern nicht an guten Schulnoten bei ihrer Tochter interessiert sind, beginnt "Das Mädchen im Strom". Gudrun wird wenig reglementiert, darf sich ausprobieren und findet ihre erste große Liebe. Doch der immer offener auftretende Nationalsozialismus verändert die Lebenspläne der selbstbewussten jungen Frau.
Den Weg zur Erwachsenen muss die kaum 17-Jährige somit schneller gehen, als ihr lieb ist. Bevor sie schließlich nach Shanghai fliehen kann, misslingt die mit ihrer Jugendfreundin Margot geplante Immigration in die USA, doch dieser gelingt die Flucht. Gudrun wird stattdessen von der Gestapo verhört und ins Gefängnis gesteckt. Schließlich in Shanghai angekommen, dem einzigen Ort der Welt, der ab 1938 für jüdische Flüchtlinge noch ohne Auflagen zu erreichen war, lernt die junge Frau schnell, sich zu behaupten und auch mit ihren sexuellen Bedürfnissen umzugehen. Einprägsam schildert Bode den Alltag zwischen chinesischen und japanischen Einwohner*innen und jüdischen Migrant*innen aus ganz Europa.
Als Gudrun später in London ein Zuhause findet, scheint sie auch in ihrer persönlichen Entwicklung zur Ruhe zu kommen. Doch mit dem neu entstehenden Briefkontakt zur ihrer in den USA lebenden Jugendfreundin Margot, werden ihr die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Holocaust bewusst. Die Autorin diskutiert diese im letzten Teil des Buches anhand der Freundinnen Gudrun und Margot, die gegensätzliche Entscheidungen treffen, um im Heute einen Umgang mit der Vergangenheit zu finden.
"Das Mädchen im Strom"
Im Roman ist "Das Mädchen im Strom" zum einen die junge Gudrun, die unbeschwert Schleppkähnen im Rhein bei Mainz hinterher schwimmt, um daran hinauf zu klettern. Zum anderen ist sie die Frau im Strom der Geschichte, deren Verlauf sie nicht beeinflussen kann, deren Herausforderungen sie sich jedoch mutig stellt.
Neben dieser gelungenen Mehrdeutigkeit des Titels sind die fehlenden Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede ein auffallend prägnantes Stilmittel. So fließen beim Lesen das Sprechen, Denken und Handeln ineinander und fügen den Text zu einer Einheit zusammen.
AVIVA-Tipp: Über sechs Jahrzehnte hinweg entfaltet die Autorin die packende Biographie einer selbstbewussten Frau, die durch ihre Flucht den Holocaust überlebt und mit dieser Traumatisierung im Hintergrund ihr Leben organisiert. Einfühlsam verknüpft sie Gudrun Samuels persönliche Entwicklungen mit den unterschiedlichen Erfahrungen ihrer Generation. Ein vielschichtiger Roman und mit seiner behutsamen Eindringlichkeit eine packende und beeindruckende Lektüre.
Zur Autorin: Sabine Bode, geboren 1947, begann als Redakteurin beim Kölner Stadt-Anzeiger. Seit 1978 arbeitet sie freiberuflich als Journalistin und Buchautorin und lebt in Köln. Sie ist eine Expertin auf dem Gebiet seelischer Kriegsfolgen und veranstaltet auch Seminare zum Thema. Ihre Sachbücher "Die vergessene Generation", "Kriegsenkel", "Nachkriegskinder" und Kriegsspuren" sind Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Die Autorin im Netz: www.sabine-bode-koeln.de
Sabine Bode
Das Mädchen im Strom
Verlag Klett-Cotta, erschienen: März 2017
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden, 350 Seiten
ISBN-13: 978-3-608-96200-0
20,00 Euro
www.klett-cotta.de
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