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Beitrag vom 18.04.2017
Karine Tuil - Die Zeit der Ruhelosen
Kristina Tencic
Der neue Roman der für "Die Gierigen" für den Prix Goncourt nominierten Schriftstellerin. Was geschieht mit Menschen, die nach Macht, Anerkennung und sozialem Aufstieg streben und dabei auf brutale Weise scheitern? Davon handelt Karine Tuils politischer Gesellschaftsroman, der erneut ein...
... facettenreiches Porträt der französischen Gegenwart zeichnet.
"Fragst du dich manchmal, warum du schreibst?
Ich schreibe, weil das Leben unbegreiflich ist."
Die Ratlosigkeit erfasst alle drei Protagonisten in Karine Tuils Roman schlagartig - gerade noch hatten sie ein recht stabiles Leben, da wird Romain in den Krieg nach Afghanistan geschickt, Osman von seinem Posten als Präsidialberater gestoßen, und Francois verliert über Nacht sein über Jahre erarbeitetes Ansehen in feinsten Unternehmerkreisen.
Nervös, unsicher, ratlos stehen sie vor den Scherben eines Lebens, das in der Retrospektive von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, da die französische Gesellschaft für Außenseiter_innen kein Happy End bereithält.
"Araber ist kein Schimpfwort. Und ich habe keinerlei Problem damit, zu sagen, dass ich schwarz bin. Ich mag diese Euphemismen nicht. Denken Sie an die Worte von Camus: Die Dinge falsch zu benennen heißt, das Unglück dieser Welt zu vergrößern. [...] Ich bin schwarz. Ihr könnt gegen Vorurteile und Diskriminierung ankämpfen, soviel ihr wollt, der Stempel, den sie euch aufdrücken, wird euch immer bleiben. Für eine Befreiung aus dem mentalen Ghetto braucht es Mut."
Romain und Osman sind im gleichen Vorort von Paris aufgewachsen, wobei sich Osman als Sprecher hervortut und bald mit offen Armen in den höchsten Rängen des Staates empfangen wird - was sich jedoch bald als "Quotenfalle" herausstellt. Als Schwarzer war er der Diversität in der Politik dienlich, doch als er mit Rassismus konfrontiert wird und sich widersetzt, muss er gehen.
Sein Freund macht ihm seine Blindheit zum Vorwurf:
"Ich bitte Dich! Die Typen mit denen du im Elysee zu tun hattest, fanden dich zweifellos intelligent und sympathisch, aber keiner von ihnen hätte dir eine seiner Töchter zur Frau gegeben. […] Das Problem in unserer Gesellschaft ist, dass man seiner Identität auf immer und ewig unterworfen ist."
Francois hingegen war schon von Kindesbeinen an privilegiert. Zwar hat er eine Rebellenphase in seinen frühen Erwachsenenjahren hinter sich, in der er ins Pornobusiness einstieg, doch in seinem Leben kümmert sich eine Herde von Angestellten um sein Wohlergehen und das seiner Firma. Der Fall ist für Francois somit umso bodenloser und härter, als er durch einen PR-Patzer vom Thron gestoßen wird und ihm seine längst vergessene jüdische Herkunft zum Verhängnis wird.
Der in zweiter Generation in Frankreich lebende Romain sieht als einzigen Ausweg aus der Banlieu eine Karriere bei der Armee. Er wird Offizier und kehrt zutiefst traumatisiert aus Afghanistan zurück. Sein einziger Halt wird die Affäre mit der Journalistin Marion, die Gattin des Millionärs Francois.
Atemlos beschreibt Karine Tuil den Abstieg ihrer drei Romanfiguren, die gefangen sind in den Klischees und Machtgefügen der heutigen französischen Gesellschaft. Sie weist die abgeschottete Elite, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit in den Vorstädten als Nährboden für Extremismus auf, die sich vor allem im Terrorismus, aber auch wiederum im Erstarken der Front National manifestiert.
Die Gefahr der Realitätsferne, die Francois im Buch in all ihrer Konsequenz erfahren muss, zeigt sich aktuell im Politiker Francois Fillon, und zeigt, was geschehen kann, wenn Menschen im Elfenbeinturm sitzen und die öffentliche Wahrnehmung nicht mehr als Maßstab seines Handelns erkennen können.
"´Mir ist bewusst, dass ich ein außergewöhnlich brutales Buch geschrieben habe´ sagte Marion zu Francois, um jede Kritik im Voraus zu entkräftigen."
AVIVA-Tipp: Karine Tuil schreibt brutal, sie schreibt ohne Luft zu holen, sie schreibt als ob ihr die Zeit davonrennt, dabei könnten ihre Beobachtungen aktueller nicht sein.
Zur Autorin: Karine Tuil wurde 1972 in eine jüdisch-tunesische Familie geboren. Als Immigrantentochter, Jüdin, Französin und in der Banlieu aufgewachsene Frau kennt sie die Identitätsfragen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten wohl aus erster Hand, doch zudem recherchiert sie minutiös jede ihrer Figuren und deren Lebenswelt. "Die Zeit der Ruhelosen" ist ihr zehnter Roman. Die Autorin wurde bereits mehrfach für den renommierten Prix Goncourt nominiert und ihr 2016 in Frankreich erschienener Roman Die Zeit der Ruhelosen wird derzeit verfilmt.
Mehr zu Karine Tuil auf Twitter: twitter.com/karinetuil
Karine Tuil
Die Zeit der Ruhelosen
Originaltitel im Französischen: L´Insouciance
Aus dem Französischen übersetzt von Maja Ueberle-Pfaff
Ullstein Verlag, erschienen 10.03.2017
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten
ISBN: 13 9783550081750
24 Euro
www.ullsteinbuchverlage.de
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