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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 13.04.2017


Herausgegeben von Gertrud Lehnert und Maria Weilandt - Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung
Magdalena Herzog

Selbstverständlich ist die Antwort auf diesen fragenden Titel komplex. Die Modeforscherin und Professorin für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Potsdam, Gertrud Lehnert, und ihre Co-Autor_innen...




... haben sich der Herausforderung angenommen Queere Momente erstmalig in einer ersten deutschsprachigen Publikation zu fassen, so sehr dieses Festschreiben dem Ansatz des Queeren an sich widerspricht. Und sie setzen sich der brisanten Verbindung von progressivem, queerem Aktivismus, Kapitalismus und Mode aus.

Das Flüchtige fassen

Anfang der 1990er-Jahr entstand die Queer Theory in den USA im Anschluss an die Lesbian und Gay Studies, doch ist sie außerhalb des akademischen Kontexts längst als Bewegung bekannt. Queer ist nicht allein als ein Vorhaben zu verstehen, das die heteronormative Kultur und das binäre Geschlechterverständnis aufzulösen sucht, sondern "herrschaftsgenerierende Kategorien" als solche, was eng an eine antikapitalistische und antineoliberale Haltung geknüpft ist. Die Felder Alter, Klasse, Ethnie, Behinderung gehören zum Anliegen queeren Denkens, doch Sex und Gender bleiben Kern des Konzepts, so Herausgeber_innen Gertrud Lehnert und Maria Weilandt. Queer ist als ein Konzept der Verunsicherung zu verstehen, das keinesfalls zum "entpolitisierten Passepartout" werden soll. Dieser Einwand ist sicher dem Gegenstand von "Mode" zuzuschreiben, die oft als allein unpolitisches und repressives Moment geschlechtlicher Identitäten und Teil des kapitalistischen Markts gesehen wird. Die Autor_innen in "Ist Mode queer?" nehmen sich dieser komplexen Konstellation an und konzentrieren sich auf das Potenzial, das trotz allem in Kleidung für queeres Unterfangen liegen kann.
Verunsicherung und Subtilität lebt von der Fluidität und der Unmöglichkeit, einordbar zu sein. Das Queere entzieht sich also per se einer Definition. Nichtsdestotrotz wagen die Autor_innen das Unterfangen und lösen das Problem, indem sie keine gemeinsame Definition nutzen. Sie erörtern das Queere an Beispielen wie dem Schaffen Alexander McQueens, den Outfits der Sängerin Janelle Monáe und der queeren Sprache, die bereits in der Überschrift als "eindeutig uneindeutig" gefasst wird. Durch diese offene Herangehensweise gelingt es den Autor_innen, das Queere zu behandeln, ohne ihm dadurch allein das lebendige Moment zu nehmen.

Kleider sind zunächst einmal nur Kleider

Alexander McQueens Inszenierungen von Mode ist bekannt für das Überschreiten von Grenzen und seine Designs sind ein gutes Beispiel dafür, dass Kleider "zunächst einmal nur Kleider" sind und nicht per se queer sein können. Wenn dem (weiblichen) Model in dem hautengen Spitzenkleid ein Geweih auf den Kopf gesetzt wird, ist nicht das Kleid der queere Moment oder das Groteske des Geweihs. Es ist das Zusammespiel des Kleids mit dem Geweih, der Bewegung des Models, die eine Performance ergibt. Es ist die Praxis, die einen queeren Moment hervorbringt. Darin sind sich die Autor_innen aller Beiträge einig.
Trotz der zu spürenden Begeisterung für diese Mode geht Lehnert der Frage nach sexistischen Praktiken McQueens Modenschauen nach: Warum inszenierte der Designer seine extreme Mode stets als Frauenmode und stets an Magermodels? Die Antwort darauf ist die der Ambivalenz: Es ist eine sexistische Herangehensweise enthalten, aber gleichzeitig "überschreiten die Inszenierungen die gesellschaftlichen Normierungen".

Ausschlaggebend ist für unsere Alltagskultur, dass die außergewöhnlichen Elemente eines Outfits eher in der High Fashion Verwendung finden und in den Läden gar nicht erst ankommen. Und selbst dann muss das Kleidungsstück von den Tragenden wiederum queer inszeniert werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kleidung der Soul- und Funk-Sängerin Janelle Monáe, die im Kapitel von Katharina Rost, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin in den Fokus ihrer Untersuchung gerückt wird.

Persönlicher Geschmack oder politisches Statement?

2010 brachte Janelle Monáe (zuletzt als Schauspielerin zu sehen in "Hidden Figures - Unerkannte Heldinnen") ihr erstes Album heraus und begeistert seitdem mit ihrer Musik und mit ihrem konstanten Stil des Anzugs in Schwarz-Weiß mit Fliege. Aufsehen erregte Monáe damit bei der Oscarverleihung 2014, obwohl diese Version des Cross Dressings seit dem frühen 20. Jahrundert von Frauen wie Jospehine Baker, Anita Berger und immer wieder Marlene Dietrich getragen wurde. Entscheidend für die Frage des Queeren sind für die Autorin Katharina Rost die historischen Bezüge des "Black Tie"-Look. Die Fliege verweist auf Wohlstand und Aristokratie und gleichermaßen auf die Kleidung der Dienstleistungsberufe. Monáe hat das bewusst aufgegriffen und sich auch verbal mit sozial benachteiligten Berufsgruppen solidarisiert. Geschlecht und Klasse spielen hier eine offensichtliche Rolle und tiefer geschaut und auch die der Schwarzen Identität. Elemente ihrer Tanzperformance sind dem R & B und Soul schwarzer Musiker_innen der 50er- und 60er-Jahre entlehnt, die Kleidung widerstrebt dem Stereotyp der "hypersexualisierten schwarzen Frau". Queeres ist hier in vielerlei Hinsicht enthalten, wenn auch die Künstlerin deutlich sagt, dass nicht die kulturellen Zuschreibungen sondern vielmehr der persönliche Geschmack entscheidend sei. Diese Äußerung stellt die Autorin glücklicherweise infrage und analyisiert aus Interviews und Videos, dass es sich in der Kontinuität des Stil sehr wohl um eine bewusste Inszenierung handelt und die Haltung eines naiven und "unverstellbaren Selbstausdrucks" vielmehr Teil dessen ist.

Monáes Kleidung wird durch den popkulturellen geschützten Kontext zum Sonderfall, zumal sie mit ihren Statements ihren Kleidungsgeschmack individualisiert. Und zeitgleich kreiert diese Haltung des Naiven eine Selbstverständlichkeit dieses Outfits und hat nach wie vor eine irritierende Haltung und wirkt im Vergleich zu anderen Inszenierungen von Frauen irritierend. Auch die Anspielungen auf Klasse und Ethnie belassen ein queerendes Moment in dem Auftreten der Künstler_in, so minimal es auch sein mag.

AVIVA-Tipp: Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung ist eine kulturwissenschaftliche Anthologie, deren Lektüre trotz des theoretischen Charakters eine kurzweilige und inspirierende ist. Die Autor_innen setzen sich produktiv mit den Widersprüchlichkeiten der Modewelt auseinander, mit den Ambivalenzen, die in der Begeisterung für Mode stecken, vor allem dann, wenn frau gleichzeitig eine grundsätzliche Kritik an dem kapitalistischen System und genderbezogenen Normen äußert.
Queer soll vor allem politisch sein – diese klare Positionierung der Autor_innen ist empowernd, sie eröffnen für sich sich und die Leserinnen eine Möglichkeit der Öffentlichwirksamkeit, die viele Wissenschaftler_nnen zu selten in Anspruch nehmen.
Besonders das abschließende Kapitel der Autorin, Journalistin und Dramaturgin Juliane Löffler zur queeren Sprache in vier Print- und Onlinemedien kann für Schaffende in der Branche ein praktischer Leitfaden sein.

Zu den Herausgeberinnen:
Gertrud Lehnert
ist seit 2002 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte der Lyrik, Modegeschichte und -theorie, Raum- und Emotionsforschung sowie Gender Studies. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher. Hier eine Auswahl ihrer wichtigsten Werke: "Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte" (1997), "Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur" (2000), "Wir werden immer schöner." (2003), "Herzanker. Dichterinnen und die Liebe" (2011), "Coco Chanel und Elsa Schiaparelli. Zwei Frauen leben ihren Traum" (2015). Seit 2012 gibt sie die Buchreihe "Fashion Studies" im Transcript-Verlag heraus.
Sie war von 1997-2011 Vorsitzende der Bücherfrauen e.V. und verfasst auch gelegentlich Rezensionen für AVIVA-Berlin.
Mehr Informationen unter: www.uni-potsdam.de
Maria Weilandt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Text-Bild-Relationen, visuelle Kulturen, kulturwissenschaftliche Stereotypenforschung, Gender und Queerness, Comic und Grafische Literatur. Ihre Promotion trägt den Arbeitstitel "Praktiken der Stereotypisierung. Die Erfindung der Pariserin".
Mehr Informationen unter: www.uni-potsdam.de

Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung
Herausgegeben von Gertrud Lehnert und Maria Weilandt
Transcript Verlag, erschienen: Oktober 2016
Kartoniert, 224 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Sprache: Deutsch
Preis: 29,99 EUR
ISBN: 978-3-8376-3490-7
www.transcript-verlag.de

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Beitrag vom 13.04.2017

Magdalena Herzog