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Beitrag vom 05.04.2017
Shlomo Birnbaum & Rafael Seligmann - Ein Stein auf meinem Herzen. Vom Ãœberleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland
Nea Weissberg
Ein historisches Erzählbuch, das das Schicksal der polnisch-jüdischen Familie Arie Leibisch Birnbaum mit den Fakten des nationalsozialistischen deutschen Vernichtungskrieges und dem systematisch geplanten Mord am jüdischen Volk untrennbar verkettet und das Zusammenwirken beteiligter polnischer und ukrainischer KollaborateurInnen aufzeichnet.
"Es genügt nicht nur auf G´tt zu vertrauen"
Aries Sohn Shlomo Birnbaum, geboren am 15. Oktober 1927, verbringt seine Kindheit im polnischen Tschenstochau, eingebettet in einem liebevollen Familienleben, das von gelebter jüdischer Religion, Tradition und innerfamiliärer Wertschätzung geprägt ist.
Sein Leben als Jugendlicher endet am 1. September 1939 im Alter von 12 Jahren abrupt.
Ein deutscher Lastwagen – mit schwarzen Kreuzen auf den Türen – rast in nervenzerreißend überhöhter Geschwindigkeit gezielt in den Fuhrwagen, der die Familie vor den Deutschen in Sicherheit bringen sollte. Sein Namensvetter und gleichaltriger Spielkamerad Shlomo, totgefahren, seine geliebte Tante Feigl hält ihren Sohn in ihren Armen.
Am 3. September 1939 beginnt die unheilvolle Odyssee, der tagtägliche brutale Kampf ums Überleben, der jahrelang andauern wird. Die Deutschen haben Tschenstochau eingenommen und veranstalten mit ihren Helfershelfern sogleich Morde an der jüdischen Bevölkerung, rauben deren Wohnungen, Häuser und Geschäftsregale voller Waren aus, zerstören das heilige Mobiliar der 1909 errichteten Synagoge.
Von einer immer größer werdenden Angst und beklemmenden Unruhe in ihm selbst und um ihn herum erzählt Shlomo Birnbaum dem Schriftsteller und Herausgeber der "Jewish Voice from Germany" Rafael Seligmann, der die detaillierten Erinnerungen seines Gesprächspartners zu Papier bringt.
Seligmann, geboren 1947, gelingt es mit glasklarer und gleichzeitig einfühlsamer Sprache die diversen Abschnitte des Überlebens, der schmerzhaft durchlebten Verhöhnung, Entrechtung, Zwangsarbeit, Verschleppung und das Eingesperrtwerden zu beschreiben. Seligmann zieht Seite um Seite die Leserinnen und Leser in seinen Bann, zur "Second Generation" gehörend, weiß er worüber er schreibt.
Birnbaum berichtet von achtbaren Menschen, polnischen Nachbarinnen und Nachbarn, die ihr Leben riskierten und Juden retteten. Er beschreibt polnische Hausgenossen, die sich an der Hetzjagd gegen die Juden beteiligten.
Seligmann ergänzt das Erlittene seines Protagonisten Birnbaum mit recherchierten historischen Hintergrundfakten. Er benennt die Namen der Verantwortlichen: 1941 wird das Zusammenpferchen ins "große Ghetto" Tschenstochau, unter dem Kommando des Stadthauptmannes Richard Wendler – einem SS-Sturmbannführer und späteren Stadtkommissar von Kielce und Stadthauptmann im Distrikt Radom – angeordnet.
Die Ein- und Ausgänge des "großen Ghettos" werden von deutschen SS-Männern, von dafür zusammengestellten Helfershelfern, einem sogenannten jüdischen "Ordnungsdienst" und von polnischen Gendarmen in blauen Uniformen bewacht.
Shlomo Birnbaum erzählt von sich als Kind, dass er so sehr an einen Engel glaubte, und diesen allabendlich im Gebet ansprach: "Ha Malach ha goel oti mi kol Ra... Der Engel, der mich vor allem Bösen bewahrt,..." möge ihn segnen und in die Hand nehmen. Doch in der Wirklichkeit wird sein kluger, mutiger, lebenstüchtiger, tatkräftiger Vater Arie sein Schutzengel und Retter werden, der ihn auffordert, trotz schlimmster Lebensumstände zu leben und sich niemals aufzugeben. Shlomos Vater selber wird nach der Shoa den tiefen Glauben an G´tt verlieren, sich von ihm verlassen fühlen.
1942 deportierten die Deutschen mit Hilfe ukrainischer Hilfskräfte 40 000 Tschenstochauer Juden nach Treblinka, 2000 Juden sind während der Räumung des großen Ghettos ermordet worden, 5000 sind davongekommen und wurden in das "kleine Ghetto" zusammengetrieben, von Stacheldraht eingezäunt.
Arie und Shlomo Birnbaum erleiden in jener Zeit ohnmächtig die gewaltvolle Trennung von der Familie, sie werden sie nie wieder sehen und konnten ihnen nicht auf Wiedersehen sagen. Shlomo Birnbaums Mutter Chenka und seine Geschwister Ester, Hirsch, Jakob und Abraham sind 1942 getötet worden.
Als Nazideutschland besiegt wurde, der Vernichtungskrieg ein herbeigesehntes Ende fand, kehrten Vater und Sohn in ihre polnische Heimat zurück. Doch das von den Nazis befreite Polen geriet immer mehr unter dem Druck der Sowjetunion in Richtung Sozialismus. In der polnischen Bevölkerung, die sich in den "verlassenen" für immer liquidiert geglaubten jüdischen Wohnungen und Häusern gut eingerichtet hatte, flammte zum Teil alter Hass, Mitleidlosigkeit, Neid, Feindseligkeiten und Raubmord gegen die zurückkehrenden Holocaustüberlebenden auf.
Arie Birnbaum entscheidet sich zur Flucht nach Deutschland, gemeinsam mit seinem Sohn, seinem Bruder Aron und dessen Frau Frimet. Ihr Ziel ist München, da sie sich im amerikanischen Sektor von den Alliierten geschützt fühlen. Eine deutsche "Willkommenskultur" begrüßte sie damals nicht.
Das Buch, entstanden auf Wunsch zweier Söhne Shlomo Birnbaums, die in München ihr Zuhause gefunden haben, ist sein Vermächtnis an seine vier Kinder und Enkelkinder, das ihnen Mut und Hoffnung mit auf ihren Lebenswegen geben soll – trotz allem.
Es ist auch seiner Frau Helen gewidmet, die aus Liebe zu ihm von Israel nach München zog und ebenso in Gedenken an seine Familienangehörigen geschrieben, die die Shoa nicht überlebt haben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und in großer Dankbarkeit an seinen Vater Arie.
Gleichzeitig ist ein beachtenswertes Geschichtsbuch gegen das Vergessen-Wollen und Verharmlosen, das den Nachkommen der NS-Täter aufzeigt, wie gewaltvoll, unbarmherzig, mit kaltem Herzen die systematische Zerschlagung jüdischen Lebens, jüdischer Kultur und Tradition angeordnet und perfekt umgesetzt wurde, wer daran kleinschrittig beteiligt war und wie die erzwungene Zeugenschaft qualvoll gesehener und gehörter Gewalttaten bis heute bei den Überlebenden nachwirkt und ihre alten Wunden des Nachts aufreißt.
Etliche NS-Täter, wie der Jurist Richard Wendler, entgingen trotz kurzfristiger Inhaftierung und Verurteilung einer Strafe, wurden gar nachträglich als nicht belastet und als Mitläufer eingeteilt, konnten ihre Erinnerungen an den Vernichtungskrieg unbehelligt beiseiteschieben und ihre Karrieren in der BRD oder SBZ neu starten.
AVIVA-Tipp: Dieses Buch zu lesen, heißt, "den Verlust und den Schmerz, den die Birnbaums und Millionen Juden erlitten haben", annährend nachzuspüren, weshalb sich ein Stein auf Shlomo Birnbaums Herz gelegt hat und er nicht mehr herzerquickend lachen kann.
Shlomo Birnbaum & Rafael Seligmann
Ein Stein auf meinem Herzen – Vom Überleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland
Herder Verlag, 1. Auflage erschienen 2016
Gebunden mit Schutzumschlag, 176 Seiten
19,99 €.
ISBN: 978-3-451-37586-6
www.herder.de
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