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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 28.02.2017


Sibylle. Zeitschrift für Mode und Kultur 1956 -1995. Sibylle Bergemann, herausgegeben von Frieda von Wild, Lily von Wild. Ausstellungen: Kunsthalle Rostock und Opelvillen Rüsselsheim
Christina Mohr, Sharon Adler

Vergangen, aber nicht vergessen. Anlässlich des 75. Geburtstages, den Sibylle Bergemann am 29. August 2016 gefeiert hätte, und des Jubiläums "25 Jahre OSTKREUZ – Agentur der Fotografen", erschienen großartige Publikationen




Die "Sibylle" war DIE Zeitschrift für Mode und Kultur der DDR. Sie erschien von 1956 bis 1995 sechsmal jährlich in einer Auflage von 200.000 Exemplaren und war regelmäßig schnell vergriffen (im DDR-Jargon "Bückware"). Das Buch beschreibt die Entwicklung der begehrten "Ost-Vogue" und stellt in ausführlichen Bildstrecken und Texten die wichtigsten FotografInnen, RedakteurInnen, DesignerInnen und AutorInnen über den gesamten Erscheinungszeitraum vor und thematisiert zeithistorische Umstände wie z.B. staatliche Zensur und Einflussnahme – wobei die "Sibylle" den entsprechenden Organen nicht relevant genug erschien, und deshalb die Redakteurinnen weitgehend freie Hand hatten. Lediglich für den nicht erfüllten Auftrag, den Leserinnen den Sozialismus nahe zu bringen, wurden die Zeitschrift gerügt: Westliche Dekadenz würde hier verbreitet, ein ganz und gar unsozialistischer Lebensstil gezeigt und als attraktiv beschrieben.

Tatsächlich war es der feste Vorsatz von Mitbegründerin und Redakteurin Sibylle Boden-Gerstner (die am 25. Dezember 2016 mit 96 Jahren verstarb), einen Hauch von "weiter Welt", vor allem immer wieder von Paris zu vermitteln. Boden-Gerstner hatte in Wien und Paris studiert, was ihr ästhetisches Empfinden stark beeinflusst hatte und sich in der Gestaltung ihrer Zeitschrift niederschlug. "Das Heft trägt meine Handschrift", wird Boden-Gerstner zitiert, eine Mischung aus Eleganz und beinah schroffer Sachlichkeit, aus Lust am Gestalten ohne pompösen Zierrat.

Bis zu ihrer Einstellung hatte "Sibylle" eine ganz einzigartige Bildsprache – die, besonders natürlich in den Vorwendejahren, nicht zuletzt dem Mangel geschuldet war. Mangel an Ware, Mangel an technischer Ausstattung, Mangel an glamourösen Kulissen: Die FotografInnen der "Sibylle" waren erfinderisch und arbeiteten mit Vorhandenem: Legendär die Modeaufnahmen an den Braunkohlegruben in Bitterfeld oder am Ostseestrand – und immer wieder vor Mauern aller Art. Dass diese Motive als Kommentare zur politischen Situation gesehen werden konnten, fiel den FotografInnen weniger auf als den Kontrollgremien, die stets befanden, dass die Mannequins und Motive in der "Sibylle" zu trist und unfreundlich wirkten. "Sehen so unsere Menschen aus?", lautete eine Frage, die sich die RedakteurInnen gefallen lassen mussten, aber, siehe oben, rutschte die "Sibylle" doch meist unbescholten durchs Zensurraster.

Dass Mode durchaus politisch wirken konnte, bewies "Sibylle" mit jeder neuen Ausgabe: Neben der abgebildeten Kleidung gab es in jedem Heft Porträts interessanter Menschen - "normale" Leute in ihren Berufen oder prominente KünstlerInnen wie Katharina Thalbach, Angelica Domröse. In den ausführlichen Interviews kamen Themen wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vieles mehr zur Sprache. Einen Ratgeberteil mit "praktischen" Rezepten gab es auch, aber der war verschwindend klein – für solche Belange gab es andere Zeitschriften, sogar auf dem begrenzten Markt der DDR.

Trotz ihrer enormen Beliebtheit sah sich "Sibylle", die sich als dialogisches Medium im engen Austausch mit ihren Leserinnen verstand, durchaus Kritik ausgesetzt. Kritikpunkt Nummer eins: Die gezeigte Kleidung war meistens nicht erhältlich. Die "Sibylle" musste im ständigen Spagat arbeiten: Entweder Erzeugnisse der heimischen Textilbetriebe vorführen (die dann ins befreundete sozialistische Ausland exportiert wurden), oder Schnittmuster für die patente Selbermacherin anbieten – was wiederum zu Kritik führte, weil die wenigen erhältlichen DDR-Produkte doch schließlich verkauft werden sollte.

Nach der Wende behauptete sich "Sibylle" noch einige Jahre, um dann doch eingestellt werden zu müssen: Der Schritt von der staatlichen Förderung in die freie Marktwirtschaft gelang nicht. Das Diktat der Wirtschaftlichkeit entpuppte sich als machtvoller als frühere politische Beschränkung.

Der prachtvoll ausgestattete Katalog zur "Sibylle"-Ausstellung, die bis Mitte April in Rostock, ab Spätsommer in Rüsselsheim zu sehen ist, bietet ästhetischen Überblick und historische Tiefe zugleich. Texte von u.a. Anja Maier, Thomas Winkler und Ulrich Ptak beleuchten das knapp vierzig Jahre bestehende Phänomen "Sibylle" aus verschiedenen Perspektiven und heben die Einzigartigkeit der Zeitschrift hervor.

Eine der langjährigsten und prägnantesten Fotografinnen der Zeitschrift war passenderweise auch eine Sibylle…
…Sibylle Bergemann (geboren 1941 in Berlin – gestorben 2010 in Margaretenhof) arbeitete seit 1976 als freischaffende Fotografin in Berlin.
Sie fotografierte zahlreiche Reportagen, Mode- und Porträtstrecken für Kunst- und Kulturmagazine der ehemaligen DDR, wie Sonntag und Sibylle. Nach der Wende und bis zu ihrem Tod arbeitete sie u. a. für die Zeitschriften GEO, Die Zeit, Der Spiegel, Stern oder The New York Times Magazine.

Für Sibylle Bergemann war die Fotografie Alles: Berufsmedium und künstlerisch- dokumentarisches Ausdruckmittel zugleich. Mode- und Porträtfotografien, situative und szenische Fotografien sowie vor allem Polaroids bilden die Schwerpunkte in ihrem Werk, das durch eine nüchterne Sinnlichkeit besticht. Ob Schwarz-Weiß-Aufnahme einer ganz jungen Katharina Thalbach aus dem Jahr 1973 in einem Café oder Aufnahmen einer einsamen Spaziergängerin 1977 in Buchholz vor der "Kulisse" der allgegenwärtigen Platte. Sibylle Bergemann hatte diesen ganz besonderen Blick und das Gefühl für den richtigen Moment.

Die Aufnahmen spiegeln den Zeitgeist, das Lebensgefühl dieser vergangenen, untergegangenen Epoche und offenbaren den genauen Blick der Ausnahmefotografin Sibylle Bergemann, für die Augenblick und Ewigkeit eins war, die mit Schärfen, vor allem aber mit Unschärfen experimentierte und die künstlerisch immer ihren eigenen Weg ging. Und damit großen Erfolg hatte. Sie prägte die Fotografie im Osten und auch nach der Wende im Westen wie keine andere. Ihr prägnant poetischer Blick auf Alltagsgegenstände offenbart Geschichten, in den von ihr portraitierten Gesichtern spiegelt sich der Moment des Vergänglichen, aber auch die Frage nach dem, was bleibt.

Integrität war es, die sie antrieb, das Unbestechliche und der Respekt für Intimität.
Schon in ihren frühen Arbeiten für die legendäre ostdeutsche Zeitschrift "Sibylle" zeigte sich ihr eigener, unverwechselbarer Stil, dem sie bis zum Schluss treu blieb: schnörkellos, kühl, ästhetisch, distanziert. Ihre Aufnahmen erzählten Geschichten, blieben dabei rätselhaft und luden dazu ein, das Bild hinter dem Bild zu entdecken. Der Sozialismus bekam durch sie ein neues, farbigeres Gesicht, ob in Portraits Reportagen oder Reisebildern.

Bergemanns späte Liebe jedoch galt dem vergänglichen Medium Polaroid, denn hier konnte sie maßlos sein, mit Material, Zeit und Raum – der flüchtige Augenblick war es, den sie festhalten wollte. Ursprünglich nur als Dokumentation für die Kostümbildnerin gedacht, für die sie die Portraits der kostümierten behinderten Schauspielerinnen des Theaters Ramba Zamba aufnehmen sollte, war die Fotografin von der Ästhetik des Polaroidmaterials fasziniert und fertigte die gesamte Serie mit ihrer Sofortbildkamera an.
"Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften."

Deutlich wird in den verblassenden Polaroids eine Morbidität, die auch das Bewusstsein um den eigenen Tod in sich trägt.
Das Spiel mit Licht und Schatten, die Kunst mit der Komposition beherrschte Sibylle Bergemann bis ins kleinste Detail, auch wenn ihre Aufnahmen wie zufällig wirken.
Genau das macht ihre Arbeiten so unverwechselbar und wertvoll – sie können als zeitlose Chroniken angesehen werden, als poetische Unikate.

Diese Publikation erscheint anlässlich des 75. Geburtstages, den Sibylle Bergemann am 29. August 2016 gefeiert hätte.

AVIVA-Tipp: Ebenso wie die Zeitschrift "Sibylle" und die Ausnahme-Fotografin Sibylle Bergemann zu ihren jeweiligen Lebzeiten und darüberhinaus Kult waren, sind auch diese Bildbände wahre Schätze, sowohl in Inhalt, als auch in Ausstattung und Layout. Eine Femmage an die Fotografinnen, die KünstlerInnen und Graphikerinnen, die keinem Trend folgten, sondern ausschließlich der Liebe zur Fotografie, zur Mode, und vor allem zum unabhängigen Schaffen gegen jede Doktrin.



Sibylle
Zeitschrift für Mode und Kultur 1956 –1995

Herausgeberin Ute Mahler und die Kunsthalle Rostock
Hardcover, Ca. 350 Seiten, ca. 570 Abbildungen 24 × 31,6 cm
Texte: Andreas Krase, Anja Maier, Ulrich Ptak, Thomas Winkler
Grafik: Hermann Hülsenberg Studio, Berlin
Hartmann Books, erschienen 20.12.2016
ISBN 978-3-96070-007-4
Euro 39,80
www.hartmannprojects.com



Sibylle Bergemann
Herausgeberinnen: Frieda von Wild, Lily von Wild, Loock Galerie
AutorInnen: Ingo Taubhorn, Jutta Voigt, Sonia Voss
Kehrer Verlag, erschienen 2016
Festeinband, 24 x 30 cm, 188 Seiten, 22 Farb-, 3 S/W- und 81 Duplexabbildungen
Deutsch/Englisch/Französisch
ISBN 978-3-86828-743-1
Euro 48,00
www.artbooksheidelberg.de

Ausstellungen

Sibylle Bergemann / Ulrich Wüst: Gruppenausstellung
SIBYLLE. DIE AUSSTELLUNG

18. Dezember 2016 – 17. April 2017
Kunsthalle Rostock, Hamburger Straße 40, 18069, Rostock
www.kunsthallerostock.de

SIBYLLE – Die Fotografen
30. August bis 26. November 2017
Opelvillen Rüsselsheim, Ludwig-Dörfler-Allee 9, 65428 Rüsselsheim
www.opelvillen.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Nie wieder Sibylle
"Träum nicht, Sibylle" heißt der Dokumentarfilm über die Geschichte der unkonventionellen Frauen-Zeit-Schrift Sibylle, die in der DDR ein Hit war. (2003)


Literatur

Beitrag vom 28.02.2017

AVIVA-Redaktion