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Beitrag vom 11.01.2017
Gabriel Berger - Umgeben von Hass und Mitgefühl
Beate Niemann
Gedanken zum Verstehen von Beate Niemann, die ihre Erinnerung und Auseinandersetzung mit ihrem Vater, dem Nazitäter Bruno Sattler, Mitglied eines Sonderkommandos der EG B, dem "Vorkommando Moskau", anhand von Bergers Publikation verarbeitet.
Der Versuch, ein Wiederaufleben jüdischen Lebens in Polen zu wagen und kurze Zeit scheinbar erfolgreich zu sein, erscheint heute wie ein Märchen. Gabriel Berger schreibt und beschreibt das Zeitgeschehen in Polen in der Zeit von 1945 – 1949 mit einem respekteinflößenden Detailwissen, mit belegten und aufgeführten Daten und Fakten, an denen es nichts zu deuteln gibt. Das gilt auch für seine eindringlichen Beschreibungen einzelner Personen. Ihr Mut, ihre Vorstellungen eines Neubeginns jüdischen Lebens in einem Land, in dem die ersten jüdischen Ansiedlungen bereits im 11. Jahrhundert nachgewiesen sind, zu wagen, ihr Scheitern zu erfahren, macht mich (die Rezensentin, Anm. der Red.) traurig und wütend zugleich.
Gabriel Berger zitiert zwei Meldungen der Einsatzgruppe B vom Juli 1941: "Polen in den neu besetzten Gebieten bei ´Selbstreinigungsprozessen´ einzusetzen" und "es hat sich gezeigt, dass der polnische Teil der Bevölkerung die Durchführung der Aktion der Sipo (Sicherheitspolizei) durch Hinweise auf russische, jüdische, aber auch auf polnische Bolschewisten unterstützt."
Ab September 1941 war mein Vater Bruno Sattler Mitglied eines Sonderkommandos der EG B, dem "Vorkommando Moskau". Die Mordaktionen dieses kleinen, aus sechs bis acht deutschen "Spezialisten" bestehenden Kommandos und ihren lokalen "Hilfswilligen" wurden in den 14-tägigen Einsatzberichten gesondert ausgewiesen.
Zur Verdeutlichung der Dimension der Mordaktionen:
"Als Teil der kämpfenden Verwaltung zog Arthur Nebe im Sommer 1941 als Chef der EG B hinter der Heeresgruppe Mitte her. Innerhalb von vier Monaten ermordete seine EG mehr als 45.000 Menschen". Zitat nach Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, S. 269 f.
Mit meinem Wissen über die Massenmorde der Deutschen an Juden, Roma, sogenannten Partisanen, Kranken, unliebsamen Personen, "sog, lebensunwerten" Menschen, ganzer Dorfgemeinschaften, habe ich mir nicht vorstellen können, dass die wenigen jüdischen Überlebenden den Versuch wagten, sich in Polen noch einmal anzusiedeln.
Das Buch zwingt durch seine Genauigkeit und Beweislast zu sorgfältigem Lesen, um die Geschichte verstehen zu können. Für mich ist Gabriel Bergers Buch ein wichtiger Teil der Grundlagenforschung über Polen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Es erscheint in einer Zeit, in der in Polen die Uhren rückwärts gestellt werden. Die Leiterin des Polnischen Kulturinstituts Katarzyna Wielga-Skolimowska wird entlassen, weil sie "zu viele jüdische Themen und zu wenig stolze polnische" in ihrem Programm hat. Das im Bau befindliche Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig wird inhaltlich verändert, Polen und seine polnischen Bürger und Bürgerinnen werden jetzt als Menschen ohne Fehl und Tadel dargestellt, sollen heroisiert werden. Das Museum soll das Leid der Polen zeigen, das jüdische Leid kommt nicht mehr vor.
Was machen wir nun mit unserem Wissen?
Das Buch fängt da an wo das Leben meines Vaters als Nazitäter aufhört. Er floh am 9. Mai 1945 bei Linz über die Grenze nach Deutschland, nicht mehr der SS-Sturmbannführer sondern ein Mann in Zivil mit sechs verschiedenen Ausweispapieren. Es hat ihm nichts genutzt. Von 1947 bis zu seinem Tod 1972 war er in Gefängnissen der sowjetischen Macht inhaftiert, ab 1949 in DDR Gefängnissen. Er war einer der wenigen aus der dritten, vierten Reihe der Mörder, der tatsächlich mit lebenslanger Haftstrafe für seine Verbrechen büßte.
In meinem neuen Buch "Ich lasse das Vergessen nicht zu", Lichtig Verlag, Berlin, 2017, beschreibe ich meinen Weg durch die Nachkriegsgeschichte Deutschlands bis heute und warum ich das Vergessen nicht zulassen kann. Auch Gabriel Bergers Buch ist ein Beweis dafür, wie notwendig es ist, sich zu erinnern.
AVIVA-Tipp: Es ist eine längst verspätete Diskussion über die lästige historische Wahrheit, die Gabriel Berger mit seinem Buch "Umgeben von Hass und Mitgefühl" entzaubert. Der Heldenmythos der widerständigen Polen, der seine jüdischen Bürger geschützt hat, fällt mit jeder Seite des Buches auseinander.
Zum Autor: Gabriel Berger, geboren 1944 in Valence, Frankreich. Zwischen 1945 bis 1977 Aufenthalte in Belgne, Polen, DDR, BRD. 1981 -83 Philosophiestudium an der TU Berlin und journalistische Tätigkeit, später IT-Trainer Autor. 2015 Beiträge im Buch "Beidseits von Auschwitz"; Lichtig Verlag Berlin.
Mehr Infos unter: www.gabriel-berger.de
Gabriel Berger
Umgeben von Hass und Mitgefühl
Lichtig-Verlag, Berlin, erschienen im September 2016
ISBN: 978-3-929905-36-6
200 Seiten
EUR 14,90
www.lichtig-verlag.de
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Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen. Beidseits von Auschwitz Identitäten in Deutschland nach 1945. Dreißig Beiträge und Schlussgedanken von Halina Birenbaum
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