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Beitrag vom 10.12.2016
Luciana Castellina - Die Entdeckung der Welt
Helga Egetenmeier
1929 in das faschistische Italien hineingeboren, hat sich die Mitbegründerin der Zeitung "il manifesto" trotz oder wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft früh politisiert und trat 1947 der Kommunistischen Partei bei. In ihrem Buch, basierend auf ihrem von 1943 bis 1948 geführten Tagebuch, blickt...
... die heute 87 Jährige Politikerin und Journalistin auf ihre Entwicklung zurück, die sie zu der kämpferischen Politikerin werden ließ, die sie bis jetzt ist.
Die zwei Jahrzehnte des italienischen Faschismus prägen die Kindheit und Jugend der 1929 in Rom geborenen Luciana Castellina. Mussolini, mit dessen Tochter Anna Maria sie die Grundschule besucht, errichtet im Januar 1925 eine faschistische Einparteiendiktatur. Als die Alliierten im Juli 1943 auf Sizilien landen, benötigen sie bis weit in den Herbst, um nach Rom vorzurücken. Eine lange Zeit für die damals 14-Jährige, die in der Hauptstadt auf das Ende des Krieges wartet.
Als Kind erlebt die Autorin, wie sich viele Menschen, auch aus ihrer eigenen Familie, verstecken müssen. Doch vom Widerstand gegen den Faschismus ahnt sie nur wenig. Ihr scheint es, als ob dieser weder in ihrem Stadtteil, noch in ihrem Umfeld eine Rolle spielt, wie sie in ihrem Tagebuch vermerkt. Mit ihren 14 Jahren ist sie in einem Alter der großen Fragen an das Leben und ihre Umgebung: "als nichts selbstverständlich und die Welt noch zu entdecken war."
Entlang ihres in den Jahren 1943 bis 1948 geführten Tagebuchs, lässt sie die Ehrlichkeit ihrer Notizen für sich sprechen. Zurückhaltend und mehr einordnend als erklärend, reflektiert sie ihre damaligen Gefühle und Erfahrungen. Für ihre Enkelkinder, die sie zu diesem Buch anregten, wie auch für sich und ihre Leser_innen, will sie ergründen, was sie auf ihren weiteren kämpferischen Lebensweg führte.
In ihrer Erinnerungsarbeit folgt sie ihrem jungen Ich und dessen Wahrnehmungen in der damaligen Welt. Die Einträge, die zuerst die Unbeschwertheit des Kindes zeigen, dem die Einordnung des Geschehens noch fehlt, verändern sich allmählich in Notizenform einer selbstbewussten Jugendlichen, die mit den pubertierenden Gleichaltrigen wenig anfangen kann. "Meine Altersgefährten sind scheinbar durch andere Dinge abgelenkt, durch die Universität, ihre Liebschaften. Ihre Welt ist nicht mehr die meine."
Sie, die eigentlich Malerin werden wollte, ergreift als junge Frau die Möglichkeit zu reisen und lernt dadurch viel über Politik und Kultur, Arbeit und Armut. Als sie sich zu einer Freiwilligenbrigade für den Ausbau einer Bahnstrecke in Titos kommunistischem Jugoslawien meldet, wird sie erstmals, und für sie überraschend auf ihre Geschlechtsidentität verwiesen. Die römisch-katholisch geprägten männlichen Kommunisten wehren sich entsetzt dagegen, dass Männer und Frauen im gleichen Schlafsaal untergebracht werden.
Ihre Neugier und ihr Wagemut halfen ihr in dieser historisch-bedeutsamen Situation, sich an Orte zu begeben, die sonst für junge Frauen aus ihrer Gesellschaftsschicht Tabu waren. Diese Möglichkeiten, sich nicht in einer bürgerlichen Zufriedenheit einzurichten, sieht sie für ihre Enkelkinder nicht. "Sie sind gefangen im leblosen Käfig ihrer Schicht, dazu verurteilt, nur ihresgleichen zu treffen, die einzigen, mit denen sie in ihren Wohnvierteln und in ihren Schulen in Kontakt treten können."
Das Buch, das kurz nach ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei Italiens im Oktober 1947 endet, erscheint in dem auf politische Literatur spezialisierten Laika-Verlag. Gegründet 2010 mit dem Projekt "Bibliothek des Widerstandes", das die Erinnerungen an linke, politische Geschichte wach halten will. Das 2011 mit dem "Femme exilée, femme engagée" ausgezeichnete Buch "Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts" von Gladys Ambort erschien ebenfalls im Laika-Verlag.
AVIVA-Tipp: Leidenschaftlich und mit der Weisheit des Alters geschrieben, ergründet Luciana Castellina ihre Entwicklung vom bürgerlichen Kind zur kritischen Kommunistin. Neugierig reflektiert sie, dicht wie auch leicht formuliert, die ersten 18 Jahre ihres Lebens. In ihren Erinnerungen verbindet sie dabei ihre persönliche Geschichte mit den historischen und kulturellen Ereignissen des faschistischen Italien und der kurzen Zeit danach, in der sich dessen politische Landschaft, wie auch ihr eigener Weg formten.
Zur Autorin: Luciana Castellina, Journalistin, Schriftstellerin und Politikerin, geboren am 9. August 1929 in Rom, trat 1947 in die Kommunistische Partei Italiens ein. Als Mitbegründerin der Zeitung il manifesto, 1969, u.a. mit Rossana Rossanda, wurde sie aus der KPI ausgeschlossen. Sie gründete die Partito die Unitá Proletaria per il Comunismo mit und war von 1976 bis 1983 Abgeordnete im italienischen Parlament, wie auch von 1979 bis 1999 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Mit ihrem Mann, dem Politiker Alfredo Reichlin hatte sie zwei Kinder. "Die Entdeckung der Welt" war 2011 für den italienischen Literaturpreis Strega nominiert. Zuletzt veröffentlichte sie 2014 zusammen mit Milena Agus "Guardati dalla mia fame" ("Hüte Dich vor meinem Hunger").
Quelle: Verlagsinfo: www.laika-verlag.de
Zur Übersetzerin: Christiane Barckhausen-Canale:, 1942 in Berlin als Tochter der Schriftstellerin Elfriede Brüning und des Schriftstellers Joachim Barckhausen geboren, ist Schriftstellerin, Übersetzerin, sowie Modotti-Forscherin und erhielt 1989 den Literaturpreis des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands. Anfang der 90er Jahre gründete sie zusammen mit einigen Freundinnen das Interkulturelle Frauenzentrum S.U.S.I. in Berlin.
Luciana Castellina
Die Entdeckung der Welt
Originaltitel: La scoperta del mondo
Ãœbersetzerin: Christiane Barckhausen-Canale
Herausgabe der deutschen Ausgabe: Gabriella Angheleddu
Mit einem Vorwort von Lucrezia Reichlin
Laika Verlag, erschienen im Mai 2016
Taschenbuch, illustriert und kartoniert mit Einschlag, 216 Seiten
ISBN-13: 978-3-944233-64-2
21 Euro
www.laika-verlag.de
Weitere Infos unter:
Daniele Segre, italienischer Filmemacher, drehte 2012 den Dokumentarfilm "Luciana Castellina, Comunista".
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