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Beitrag vom 14.11.2016
Sarah Moss - Zwischen den Meeren
Helga Egetenmeier
Für das viktorianische Zeitalter sind Ally, die Akademikerin, und Tom, der Ingenieur, ein ungewöhnliches Ehepaar. Sie kämpft als erste englische Ärztin um einen Arbeitsplatz in einer Nervenheilanstalt für Frauen, während er ...
... beruflich nach Japan reist. Sarah Moss entwirft zwei sympathische und aufmerksame Figuren, mit denen die Leserin eine Zeit des persönlichen, wie auch gesellschaftlichen Umbruchs erlebt.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert trennt sich das frisch verheiratete Ehepaar Moberley Cavendish für ein halbes Jahr und macht sich auf in unbekannte Welten. Sie versucht in der für Ärztinnen noch weitgehend verschlossenen englischen Arbeitswelt Fuß zu fassen, während er in Japan im Auftrag eines Kunstsammlers kostbare Kulturgüter erwirbt.
"Ich habe von Ihnen gehört. Damen als Ärzte, ich weiß nicht." Mit diesem Satz begrüßt eine Anstaltsbeschäftigte Ally an ihrem unbezahlten Arbeitsplatz. Moss lässt ihren Roman in jener Zeit spielen, als Frauen langsam in die männlich beherrschte Medizin vordringen, kurz nachdem 1869 die "Edinburgh Seven" als erste Frauen in England begannen, Medizin zu studieren und dabei zahlreichen Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt waren.
Bereits in ihren vorherigen Büchern setzt sich Sarah Moss mit offensichtlichen wie subtilen Identitätsanforderungen und deren Verbindung zu den ökonomischen Verhältnissen auseinander. In "Schlaflos" ist es die Mutterrolle einer um Zeit kämpfenden Doktorandin und in "Sommerhelle Nächte", einem Island-Reisebuch, sind es die Reflexionen kultureller Zuschreibungen mit Blick auf die vergangene Finanzkrise. Den steinigen Weg der Ally Moberley von ihrer Kindheit bis zur Ausbildung als Ärztin beschreibt sie im ebenfalls sehr lesenswerten Vorgängerroman "Wo Licht ist".
Sarah Moss ProtagonistInnen eint auch in "Zwischen den Meeren" die Unteilbarkeit von persönlichen Erfahrungen. So zeigt sie an Ally und Tom, wie auch an den Insassinnen der "Irrenanstalt" und dem japanischen Touristenführer, dass Sprache allein nicht ausreicht, um individuell erfahrene psychische und körperliche Erlebnisse zu vermitteln.
Kapitelweise zwischen ihren zwei ProtagonistInnen wechselnd, überkreuzt sie bei ihnen auch die üblichen Geschlechterzuschreibungen. Die Frau repräsentiert die männlich besetzte Arbeitswelt und der Mann die weiblich belegte Kultur. Gleichzeitig verringert Moss durch korrespondierende Themen die örtliche Distanz zwischen dem Paar. So philosophiert Tom über den japanischen Irrgarten, der den Arbeitsplatz von Ally auf ungewöhnliche Weise und dennoch überaus treffend, reflektiert.
AVIVA-Tipp: Sarah Moss taucht erneut mit leichter Feder tief ein in die Feinheiten der Kultur- und Geschlechtergeschichte. Einfühlsam beschreibt sie die Lebensziele und Gefühlswelten zweier couragierter Menschen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, deren persönliche Identitätsvorstellungen die aufkommenden gesellschaftlichen Veränderungen spiegeln. Kunstvoll verflicht sie dies mit den unter den gegebenen Umständen möglichen Freiheiten der Einzelnen und ihren Umgang mit den dabei entstehenden Unsicherheiten.
Zur Autorin: Sarah Moss, 1975 in Glasgow geboren, wuchs in Manchester auf und studierte und promovierte an der Oxford University in Englischer Literatur. Sie arbeitete fünf Jahre an der University of Kent, unterrichtete ein Jahr an der University of Iceland und ist heute als Professorin für Kreatives Schreiben an der University of Warwick. Folgende ihrer Bücher sind bisher auf Deutsch erschienen: "Schlaflos" (2013), "Sommerhelle Nächte" (2014) und "Wo Licht ist" (2015). Ihr jüngstes Buch "The Tidal Zone", über eine Familie im heutigen Mittelengland und deren Bezüge zurück in die Zeit des 2. Weltkrieges, kam im Juli 2016 in Großbritannien auf den Markt.
Quelle: Verlagsinfo und Webseite der Autorin
Die Autorin im Netz: www.sarahmoss.org
Zur Übersetzerin: Nicole Seifert, geboren 1972, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Amerikanistik in Berlin und lebt heute als freie Lektorin und Übersetzerin in Hamburg. Sie übersetzte bereits die drei vorherigen auf Deutsch erschienen Bücher von Sarah Moss.
Sarah Moss
Zwischen den Meeren
Originaltitel: Signs for Lost Children
Ãœbersetzerin: Nicole Seifert
Verlag mare, erschienen im August 2016, als eBook ab September 2016
Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 410 Seiten
ISBN-13: 978-3866482579
22,00 Euro
www.mare.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Lou Andreas-Salomé. Kinostart 30. Juni 2016. Cordula Kablitz-Post bringt mit ihrem Spielfilmdebüt die Biographie der unangepassten Psychoanalytikerin auf die Leinwand, authentisch gespielt von Katharina Lorenz, Nicole Heesters und Liv Lisa Fries. (2016)
Sarah Moss - Wo Licht ist. Als die Suffragetten in England den Kampf um Gleichberechtigung aufnahmen, hatten mutige Frauen den Weg für Veränderungen bereits vorbereitet. Um den Beginn der Frauenbewegung im viktorianischen Zeitalter kreiert Sarah Moss ihre Coming-of-age-Geschichte der späteren Dr. Ally Moberley, die von ihrer sich in Frauenhäusern engagierenden Mutter als eine der ersten Frauen bis zum Studium der Medizin geführt wird. (2016)
Ich hiess Sabina Spielrein - Ein Film von Elisabeth Márton. Lange vor David Cronenbergs Spielfilm "Eine dunkle Begierde" und Sabine Richebächers wegweisender Biografie "Sabina Spielrein. Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft", porträtierte die schwedische Regisseurin Elisabeth Márton in ihrem Dokumentarfilm die russisch-jüdische Ärztin und Analytikerin Sabina Spielrein. (2011)