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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 01.11.2016


Nele Pollatschek - Das Unglück anderer Leute
Romina Wiegemann

Die 1988 in Ost-Berlin geborene Autorin stellt dysfunktionale familiäre Beziehungen in den Fokus ihres tragisch-komischen Debütromans. Insbesondere das Verhältnis zwischen der Mittzwanzigerin Thene und ihrer narzisstischen Mutter Astrid, die ...




... die emotionalen Grenzlinien ihrer Kinder pausenlos überschreitet, steht im Vordergrund einer Handlung, die einen überaus überraschenden Verlauf nimmt.

Gleichzeitig beschreibt die junge Autorin das Lebensgefühl ihrer Generation, welches sie im Vergleich zu der Unbefangenheit der Eltern eher vom Ringen nach Stabilität und Sicherheit geprägt sieht.

"Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie", lautet der erste Satz des Romans. Er entstammt der Kehle der Ich-Erzählerin Thene. Ausgerechnet mit ihrer Großmutter, Astrids Mutter, ist sie sich einig: Astrid ist nicht zu ertragen. Getrieben von der Lust aufzufallen, macht sie ihrer Familie das Leben zur Hölle. Dabei hat Thene längst verstanden, dass sie im Leben ihrer Mutter nicht an oberster Stelle steht und sich, auf bemerkenswert abgeklärte Weise, damit arrangiert. Sie kann Astrids (zweifelhaften) Weltrettungsallüren, die über allem, jeder und jedem stehen, sogar etwas abgewinnen. Schwer zu ertragen ist es für Thene dann, wenn die emotionale Übergriffigkeit und die Manipulationen durch ihre Mutter überhand nehmen und Astrid wie ein Bulldozer in ihre mühevoll geschaffenen Schutzräume einfällt. Diese bestehen nicht nur kognitiv, wie in Thenes auffälligem Hang zu philosophischer Kontextualisierung ihres emotionalen Erlebens, sondern sind auch ganz real: Ihr Leben zwischen ihrem Studienort, Oxford, und dem Odenwald, wo sie mit ihrem Freund Paul (meistens) unbehelligt den einfachen Freuden des Lebens frönen kann.

Paul ist in Thenes Augen nicht nur erfrischend "normal", sondern besitzt die an Magie grenzende Eigenschaft, jegliche Form von Ärger und Enttäuschung in Luft aufzulösen. Er ist der sichere Ort, den Thene selbst für ihren fünfzehnjährigen Halbbruder Eli darstellt. Und den braucht Eli, angehender Zauberkünstler, mehr als alles andere. Denn sein größtes Zauberstück, nämlich die Abgrenzung von seiner "terroristischen" Mutter, ist ihm noch nicht geglückt. Sein Vater Ralf, seit seiner Hinwendung zum orthodoxen Judentum nur noch Menachem genannt, glänzt entweder durch Abwesenheit oder aggressive E-Mails aus dem Off, und ist somit mehr Last als Stütze.

Als Astrid bei einem Unfall ums Leben kommt, ist es nicht der Schmerz, der Thene vereinnahmt, sondern die restliche Familie, die sich im Angesicht des Unglücks bemüßigt fühlt, zusammen zu kommen. Thene weigert sich, bei dieser Inszenierung mitzumachen. Das Trauerspiel widert sie an, sie wehrt sich gegen eine Aufwertung von Menschen "qua Tod", selbst oder vielleicht gerade dann, wenn es sich um ihre Mutter handelt. Schließlich hatte keine/r der Anwesenden viel für Astrid zu ihren Lebzeiten übrig gehabt.

Zur betrübten Gesellschaft gehört auch Georg, Thenes Vater, der seit seinem Coming Out mit Christoff zusammenlebt. Seine Trauer über Astrids Tod scheint schier endlos. Thene ist darüber sehr verärgert, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihre "Vaterwunde", ein Relikt aus der Zeit, in der Georg die Familie verlassen hatte, neu aufbricht.

Während Thene sich mit Begräbnisvorbereitungen und Astrids hinterlassenem Schuldenberg herumschlägt, hat sie damit zu tun, Eli auch vor den Annäherungsversuchen seines Vaters Menachem zu schützen, der sich, begleitet von salbungsvollen Worten und einer Schüssel Eintopf, wieder Zutritt in dessen Leben verschaffen will…
Was am Ende des Romans passiert, wird hier nicht verraten, aber so viel sei gesagt: Mit Logik und Rationalität wird auf ironische Weise aufgeräumt...

AVIVA-Tipp: Es ist ein außergewöhnliches und mit Tabubrüchen nicht geizendes Debut, das die Autorin hier vorlegt. Überzeugend ist einerseits die moralische Konsistenz der Protagonistin, andererseits die Schonungslosigkeit ihrer Ansichten. Nele Pollatschek greift dabei insbesondere ein aktuell diskutiertes Thema auf, wie zum Beispiel die Frage, ob jede Mutter in dieser Rolle "aufgehen" muss. Der Beschreibung ihrer eigenen Generation, die sie als verunsichert und eskapistisch betrachtet, kann man/frau teilweise zustimmen, bei der Darstellung der aus ihrer Sicht vergleichsweise "freien" Elterngeneration greift die Analyse - gerade in Bezug auf eine jüdische Familienbiographie wie sie auch hier vorliegt - etwas zu kurz. Obwohl der Roman ein paar Längen hat, die akademischen Exkurse zu Wahrscheinlichkeiten und Logik stellenweise ermüden, ändert das nichts daran, dass Nele Pollatschek etwas zu sagen hat und wir darauf hoffen dürfen, in Zukunft noch mehr davon zu lesen.

Zur Autorin: Nele Pollatschek, geboren 1988 in Ostberlin, hat Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford studiert. Sie arbeitet als Dozentin und promoviert gerade über das Problem des Bösen in der Literatur.
Mehr Infos unter: twitter.com/NRPollatschek
(Quelle: Verlagsinformationen)

Nele Pollatschek
Das Unglück anderer Leute

Galiani Berlin bei Kiepenheuer&Witsch, erschienen am 11.08.2016
224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86971-137-9
18,99 Euro
www.kiwi-verlag.de

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Beitrag vom 01.11.2016

Romina Wiegemann