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Beitrag vom 24.02.2012
Milena Magnani - Der gerettete Zirkus
Sonja Baude
Die italienische Autorin gibt den Ausgegrenzten eine Stimme. Sie erzählt von unüberwindlichen Widrigkeiten, denen die Menschen in einem Roma-Camp ausgesetzt sind, von Wut und einer leisen Hoffnung.
Ein Themenschwerpunkt des aktuellen Amnesty Journals ist der gegenwärtige Rassismus in Osteuropa. Antihumanistisches Gedankengut und der Hass gegen Minderheiten sind in vielen Ländern weltweit gesellschaftsfähig und ermöglichten beispielsweise in Bulgarien im vergangenen Herbst eine Großdemonstration gegen Roma. Auf der diesjährigen Berlinale gewann der ungarische Film "Csak à szel" (Nur der Wind) von Bence Fliegauf, der den ungarischen Rassismus gegen Roma thematisiert, den Großen Preis der Jury. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund dieser politischen Aktualität verdient "Der gerettete Zirkus", der bereits vor einem Jahr in der Edition Nautilus erschien, besondere Beachtung. Es ist die Geschichte über den Alltag eines Camps, an der Peripherie einer italienischen Stadt, in dem Roma aus verschiedenen Herkunftsländern ihr Dasein bestreiten. Und es ist die Geschichte von Branko Hrabal, einem ungarischen Gerüstbauer, der als dreißigjähriger Mann in dieses Lager kommt, im Gepäck ein großes Geheimnis, verstaut in zehn Kisten.
In dem Moment, da der Erzähler anhebt zu seiner Erzählung liegt er im Schlamm, mit sieben Messerstichen ermordet. Magnani hat sich damit für die Gattung des Märchens entschieden. Ihr Erzähler ist tot und kann jetzt umso schärfer den Blick auf Vergangenheit und Gegenwart richten und Kontinuitäten ausloten. Erpicht darauf, das Geheimnis zu lüften, das sich in den Kisten verbirgt, hängen die Kinder des Camps an Brankos Lippen und drängen ihn zum Weitererzählen. Eine liebevolle Freundschaft entspinnt sich so nach und nach und macht die Lebensumstände der Roma, geprägt von Armut, Gewalt und Kriminalität, für Momente vergessen. Vor allem aber weist Branko den Kindern einen Hoffnungsweg in die Zukunft.
Die Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Magnani beschreibt die Lagerwirklichkeit der Roma, ihre Ausgrenzung am untersten Rande der Gesellschaft einerseits und die rigide Hierarchie innerhalb des Camps andererseits. Darin verknüpft, erzählt Branko von dem Verrat, der vor über einem halben Jahrhundert an seinem stolzen Großvater, dem Zirkusdirektor, geübt worden war. Er und sämtliche Mitglieder des Wanderzirkus´ wurden in den 1940er Jahren in Birkenau vernichtet, allein Brankos Vater überlebte, hielt aber seine Herkunft stets geheim. Es ist Branko in der dritten Generation, der die Notwendigkeit des Erinnerns intuitiv begreift. In seiner Geschichte lässt er den Zirkus wieder lebendig werden und zollt damit seinen Vorfahren und ihren Traditionen tiefen Respekt. Magnani führt vor, dass das Erzählen vor dem Vergessen schützt und in sich die einzige Waffe gegen die Marginalisierung von Menschen und ihren Lebensweisen birgt.
AVIVA-Tipp: Magnanis in Kisten verstauter Zirkus ist zuallererst eine Metapher. Mit ihm werden auch die Lebensgeschichten einer Roma-Familie vor dem Vergessen gerettet. Nach und nach lüftet der Erzähler und Außenseiter Branko die Geheimnisse seiner Herkunft und gewährt den Kindern des Camps zudem einen hoffnungsvollen Blick auf eine mögliche Zukunft an einem anderen Ort. Dieses poetische und zugleich sehr traurige Märchen ist ein Appell an die Menschlichkeit.
Zur Autorin: Milena Magnani wurde 1964 in Bologna geboren. Sie studierte Sozial- und Politikwissenschaften. Heute arbeitet sie als Journalistin und Dramaturgin. Der gerettete Zirkus ist ihr dritter Roman.
Zur Übersetzerin: Maria Pflug wurde 1946 in Bad Kissingen geboren. Sie lebt als freie Übersetzerin in Rom und München und übersetzte u.a. Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, P.P. Pasolini und Rosana Rossanda.
Milena Magnani
Der gerettete Zirkus
Edition Nautilus, erschienen 2011
Gebunden, 192 Seiten
ISBN 978-3-894-017392
18, 90 Euro