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Beitrag vom 26.09.2016
Anne Garétta - Sphinx
Silvy Pommerenke
Dreißig Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung erscheint dieser eigenwillige aber überaus lesenswerte Roman nun auf Deutsch und hat nichts weniger als den Abgesang der Liebe zum Inhalt, ohne dass dabei das Geschlecht der Figuren benannt wird. Ein literarisches Kunstwerk!
Was simpel klingt, nämlich die Liebe zwischen zwei Menschen, wird alles andere als simpel dargestellt. Die beiden Hauptfiguren, Ich und A*** sind zwei Menschen, die in Paris aufeinandertreffen. Das biologische Geschlecht wird nicht erwähnt, die körperlichen Konturen können demzufolge auch nur grob umrissen werden. Der oder die eine ist Tänzer/in, der oder die andere legt Platten in Discos auf. Vorzugsweise wird die gemeinsame Zeit im bunten und schrillen Nachtleben am linken Seine-Ufer verbracht. Aber auch New York und Amsterdam bieten Raum für lange Nächte. Nur mit der Liebe tun sich beide Personen schwer. Es ist ein Auf und Ab von Ja und Nein, von Nähe und Distanz, und schon bald zeichnet sich ab, dass die "todgeweihte Zweisamkeit" nur einen schalen Bodensatz der Liebe zurücklässt, der letztlich die Ich-Figur zum Verlust der eigenen Sprache führt. Dieses Schicksal teilt auch die Hauptfigur eines Folgeromans von Garréta "Ciels liquides" (Grasset, 1990).
Alles im Roman bleibt unkonkret, wie in einem Vexierspiegel, ohne Grund und Boden. Sobald etwas deutlicher zu werden scheint, sobald sich Konturen des Erkennens abzeichnen, so schnell verflüchtigt sich die vermeintliche Erkenntnis und wird abgelöst von einer neuen (flüchtigen) Idee des Interpretierens. Aber genau das macht es zu einem wahren Vergnügen, diesen Roman zu lesen! Die Rezensentin hatte eine andere Lesart als Antje Rávic Strubel in ihrem überaus geistreichen Nachwort, aber egal, zu welchem Schluss Sie beim Lesen kommen, eines wird durch den Text deutlich: wie universell Liebe und Leid sind, jenseits von Geschlecht, Alter, Nationalität oder Hautfarbe, und wie sehr wir unser heutiges idealisiertes (und deswegen kaum lebbares) Liebeskonzept den RomantikerInnen des 18. und 19. Jahrhunderts entnommen haben.
Eigentlich erstaunlich, dass "Sphinx" drei Jahrzehnte brauchte, um ins Deutsche übersetzt zu werden. An Aktualität hat das Buch rein gar nichts eingebüßt, der Plot könnte genau so gut in der Jetzt-Zeit spielen, wo Diskussionen über Geschlechterrollen schon fast zum guten Ton gehören. Ebenfalls zu Kontroversen führte Amanda Lear in den Siebziger und Achtziger Jahren, die vermutlich mit ihrem Song "The Sphinx" als Namensgeberin des Buches diente und von der Ich-Figur zitiert wird. Lear war die Muse von Salvador Dali, dessen Idee es auch war, sie mit einem vermeintlichen transsexuellen Hintergrund in die Schlagzeilen zu bringen. So, wie hier der Roman- und Songtitel im Buch aufgegriffen und widergespiegelt werden, so finden sich zuhauf Anspielungen auf das Unbekannte, das nicht Greifbare. Wie auch der Chansontitel "La Ville Inconnue" (Unbekannte Stadt) von Edith Piaf oder ein Auszug aus einem Gedicht von Stéphane Mallarmé, das den Schwanengesang des Romans einleitet.
AVIVA-Tipp: Erstaunliches, was die Autorin da in ihren jungen Jahren (sie war erst Anfang zwanzig) zu Papier gebracht hat. Klug, geistreich, poetisch, mystisch, voller Anspielungen und sehr tiefgründig! Ein absolut lesenswerter Roman, der dazu verlockt, ihn gleich ein zweites Mal zu lesen, um ihn wohl erst dann in seiner Gänze zu erfassen.
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Anne Garétta am 11. November 2016 im Literaturhaus Berlin. © AVIVA-Berlin, Silvy Pommerenke |
Zur Autorin: Anne Garétta Genauso ungreifbar, wie der Text erscheint, so wenig greifbar ist die Autorin. Aktuelles von ihr und über sie ist im weltweiten Netz kaum zu finden. Weder auf der Website der Universität in Rennes II, an der sie seit 1995 arbeiten soll, finden sich Einträge zu ihr, noch ist das Autorinnenprofil ihres französischen Verlags Grasset sehr aussagekräftig. Auch nach aktuellen Fotos sucht frau/man vergeblich im Netz. Es scheint fast so, dass sie das Schicksal ihrer Romanfiguren teilt. Sicher allerdings ist, dass Garréta 1962 in Paris geboren wurde, sie im Jahr 2000 aufgrund von "Sphinx" in den AutorInnenkreis Oulipo (dessen Ziel eine Spracherweiterung durch formale Zwänge ist) aufgenommen wurde und für ihren Roman "Pas un jour" im Jahr 2002 den Prix Médicis erhielt, der jährlich für das Werk eines großen, aber viel zu unbekannten literarischen Talents verliehen wird.
Zur Übersetzerin: Alexandra Baisch hat ein DESS de Traduction Littéraire (Master in Literarischem Übersetzen). Nach Stationen im Droemer Verlag ist sie seit 2010 als freie Übersetzerin (Französisch, Englisch, Spanisch) und Lektorin tätig, seit 2014 auch als Dozentin an der LMU für Literarisches Übersetzen.
Anne Garétta
SphinxOriginaltitel: Sphinx (erschienen 1986)
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
Mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel
edition fünf, erschienen September 2016
Deutsche Erstausgabe
Gebunden, 184 Seiten, mit Lesezeichen
ISBN 978-3-942374-83-5
Euro 19,90
www.editionfuenfWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Das Interview mit Antje Rávic Strubel vom August 2016, in dem sie über ihren neuesten Roman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" spricht, bei dem es unter anderem um Menschen geht, deren körperliche Identität nicht eindeutig ist.