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Beitrag vom 31.08.2016
Olaf Stieglitz & Jürgen Martschukat (Hrsg.): Race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit: 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen
Hai-Hsin Lu
Beiträge zu und von 50 internationalen Theoretiker_innen, historischen Schlüssellektüren und literarischen Werken, die den Diskurs um Kolonialismus, Rassismus und Sexismus bis heute maßgeblich prägen. Ihre Essays verdeutlichen, dass ...
... diese Begriffe in ihrer Kompexität nur in Relation zueinander verstanden werden können.
"Keine Geschichte der Neuzeit kann ohne die Geschichte des Rassismus geschrieben werden. Zugleich muss die Geschichte des Rassismus als eine Geschichte des Sexes geschrieben werden.", so führen die Herausgeber in ihren von 50 Historiker_innen, Kultur- und Literaturwissenschaftler_innen gestalteten Sammelband ein. Über Klassiker der Humanwissenschaften, Fotografien aus Kolonialzeiten und Gesetzestexten bis zu Schlüsseltexten der Queer- und Postcolonial Studies ist ein breites Spektrum abgedeckt, das die komplexen Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen Race und Sex darstellt.
"Gender Trouble"
Ein bereits über 25 Jahre kontrovers diskutiertes Schlüsselwerk der Gender Studies ist Judith Butlers "Gender Trouble" (1990), oder "Das Unbehagen der Geschlechter". Sabine Sielke, Professorin für Literatur und Kultur Nordamerikas an der Universität Bonn, führt in ihrem Beitrag "Judith Butler: "Gender Trouble (1990) Oder: Wider die Schwarzweißmalerei" in die Debatten der Performativität, Heteronormativität und Geschlechterverhältnisse ein. Während Butlers Bekanntheit auf ihrer Dekonstruktion der Dichotomie zwischen Sex und Gender, das heißt, biologischem und sozialem Geschlecht, fußt, spricht sie auch über die Untrennbarkeit zwischen Sex und Race. Für beide ist gültig, dass unsere als natürlich gegeben empfundenen Körper maßgeblich durch soziale Praxis geprägt werden. Erst so wird diese vermeintliche Natürlichkeit überhaupt erschaffen und die Subjekte essentialisiert. Sielke lässt auch die Kritik nicht aus, die Butler für ihre Positionierung zum Nahostkonflikt erfährt und vermittelt so einen umfassenden Einstieg zu ihrer Person und ihrem Schaffen.
Koloniales Gedankengut demaskieren
Andreas Eckert, Professor der Asien- und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin, führt in ein weiteres Schlüsselwerk der Humanwissenschaften ein: "Black Skin, White Masks" (1952) oder "Schwarze Haut, weiße Masken" von Frantz Fanon, dem antikolonialen Psychologen, Philosophen und Revolutionär. Die Postcolonial Studies haben dessen Werk, das eine Mischung aus Psychoanalyse, Literatur und Autobiographie ist, längst zum wegweisenden, kanonischen Text erkoren. Auch hier zeigt sich die Untrennbarkeit zwischen Race und Sex - Fanon weißt auf die Hypersexualisierung des schwarzen Mannes hin, die Projizierung einer kolonialen Phantasie.
Exotisierung und Rassifizierung
Ein Bild spricht tausend Worte – so widmet sich in der Anthologie ein Beitrag der kolonialen Fotografie, beziehungsweise einem spezifischen Foto: "Mr Bennet (American) and Filipino Wife (1902)". Silvan Niedermeier, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Nordamerikanischer Geschichte an der Universität Erfurt schreibt über den westlichen Blick auf das koloniale "Andere". Niedermeier analysiert das benannte Bild bis aufs genaueste Detail und liefert kontextualisierende Informationen. Die Verbindung zwischen weißen, westlichen Männern und philippinischen Frauen ist von Exotisierung und Rassifizierung gezeichnet: Debatten über "Verunreinigung" durch eine "Mischehe", aber auch Narrative um die sinnliche, hingebungsvolle philippinische Frau dominieren den historischen Diskurs rund um das Foto.
Antisemitismus und Kolonialrassismus
Claudia Bruns, Professorin am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien in Berlin, greift in ihrem Beitrag die Verflechtung zwischen Rassismus und Antisemitismus im 19. Jahrhundert auf. Anhand des deutschen Antisemiten Wilhelm Marr (1819 – 1904) analysiert sie die Zusammenhänge von kolonialrassistischen Vorstellungen, die Marr auf seinen Reise durch Mittelamerika amßgeblich prägten, und seinem ausgeprägten Antisemitismus. Marr konstruierte ein "inneres Schwarzsein", das er den europäischen Juden zuschrieb, um ihre "degenerierten" Merkmale zu begründen. Bruns macht deutlich, dass unterschiedliche Rassismen in Relation zueinander betrachtet werden müssen – nur so sei eine fundierte Kritik möglich.
Ein Abbild der Diversität und Komplexität
Neben diesen vier exemplarischen Beiträgen sind selbstverständlich noch zahlreiche andere zu nennen: Herausgeber Olaf Stieglitz schreibt zu Edward Saids "Orientalism" (1978), M. Michaela Hampf vom John-F.-Kennedy Institut über die Abolitionistin und Frauenrechtlerin Sojourner Truth und Karin Hostettler von der Universität Basel geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, um Immanuel Kants Ideen der Aufklärung zu diskutieren. Es gibt des Weiteren Beiträge zu Konsum und Rassismus, dem "Chinese Exclusion Act", dem "Manifest Destiny" und vieles mehr. Die insgesamt 50 Essays vermitteln den Leser_innen einen Einstieg in unterschiedliche Lektüren, sie sind ein Abbild der Komplexität und Vielschichigkeit, die den Diskurs um Race und Sex in diversen wissenschaftlichen Disziplinen ausmachen.
AVIVA-Tipp: Ein aufschlussreicher Einstieg in diverse Fachdisziplinen: Neben Postcolonial und Gender Studies reihen sich literaturwissenschaftliche Texte neben geschichtswissenschaftliche Beiträge – "Race & Sex" ist ein Standardwerk voller pointierter Essays, die zum kritischen Nachdenken anregen.
Zur den Herausgebern:
Olaf Stieglitz ist Geschichtswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Nordamerikanische Geschichte. Er studierte an der Universität Köln, wo er auch heute lehrt, Mittlere u. Neuere Geschichte, Anglo-Amerikanische Geschichte, Philosophie und Anglistik. Er machte in Hamburg, Bremen und Tallahassee Station und habilitierte schließlich an seiner Alma Mater, der Universität Köln. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Artikel, darunter "Geschichte der Männlichkeit" (2008) und "Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der nordamerikanischen Geschichte. Ein Reader." (2007) mit Jürgen Martschukat.
Weitere Infos: www.uni-koeln.de
Jürgen Martschukat ist seit 2006 Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Philosophischen Fakultät an der Universität Erfurt. Er studierte Geschichte, VWL, Anglistik an den Universitäten Köln und Bonn und habilitierte 1999 in Neuerer Geschichte an der Universität Hamburg. Er forscht unter anderem zur Todesstrafe: "Is the Death Penalty Dying? European and American Perspectives" (2011) und "The Art of Killing by Electricity´: The Sublime and the Electric Chair" (2002).
Weitere Infos: www.uni-erfurt.de
Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat (hg.)
Race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit: 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen
Neofelis Verlag, erschienen April 2016
Softcover, 421 Seiten
ISBN 978-3-95808-034-8
28,00 Euro
Auch als eBook erhältlich
www.neofelis-verlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
AVIVA-Interview with Judith Butler
"I must distance myself from this complicity with racism" - with these words, the famous philosopher and gender-theorist refused the "Civil Courage Prize" at the CSD in Berlin, June 2010.
Judith Butler - Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen und Krieg und Affekt
Judith Butler ist eine der wichtigsten Theoretikerinnen der Genderforschung. Ihr Buch "Gender Trouble" löste umfangreiche Debatten aus. Butler hatte darin die These aufgestellt, dass Geschlecht keineswegs biologisch determiniert sei, sondern durch soziales Verhalten erst konstruiert werde. In Deutschland erschien das Werk 1991 unter dem Titel "Das Unbehagen der Geschlechter". (2009)
Ina Kerner - Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus
Wie können die Funktionsmechanismen und das Verhältnis von Rassismus und Sexismus angemessen beschrieben werden? Das ist die Leitfrage, der die Autorin in ihrer Untersuchung nachgeht. Basierend auf der Machtanalyse von Michel Foucault versteht sie Rassismus und Sexismus gleichermaßen als Postulate, die Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse begründen. (2009)
Euer Schweigen schützt euch nicht, Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Herausgegeben von Peggy Piesche
"Eine Schwarze, Kriegerin und Dichterin, die ihre Arbeit tut und gekommen ist, euch zu fragen, ob ihr die Eure tut." Dieser Aufruf zum politischen Handeln zeigte in Deutschland eine großartige Wirkung: das Erwachen einer Bewegung. (2013)