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Beitrag vom 26.08.2016
Ursula Fricker - Lügen von Gestern und Heute
Hai-Hsin Lu
Drei Menschen, deren Wege sich in einer deutschen Großstadt kreuzen: Die Studentin, die für die Rechte der Geflüchteten kämpft, der konservative Innensenator, und die Prostituierte, die sich nach einem eigenen Klavier sehnt.
Ende 2012 besetzte eine Gruppe von Geflüchteten und deren Unterstützer_innen nach einem langen Protestmarsch durch Deutschland den Oranienplatz und die naheliegende, leerstehende Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Die Schweizer Autorin und Journalistin Ursula Fricker setzt an den Anfang ihres Romans einen Disclaimer, in dem sie "eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten" als rein zufällig deklariert. Tatsächlich jedoch ist es offensichtlich, dass die Geflüchtetenproteste, die Berlin in den letzten Jahren begleiteten und formten, als Kulisse ihres Buches dienen.
Fricker beginnt mit der Beerdigung eines hochrangigen Lokalpolitikers. In der sich entfaltenden Szene begegnen sich die drei Protagonist_innen zum letzten, für die Leser_innen jedoch zum ersten Mal. Der Innensenator Otten bewegt sich mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit durch seinen Alltag, der aus seinem Beruf als Politiker, seiner pferdeliebenden Gattin und ihrer gemeinsamen Villa besteht. Isa ist eine Studentin, die sich in ihrem öden Leben gefangen fühlt und nach Auswegen, neuen Erlebnissen und Menschen sucht. Beba wiederum ist Prostituierte und Pianistin, die vor der Armut nach dem Bürgerkrieg in ihrer für die Leserin unbenannten Heimat floh und von einem eigenen Klavier träumt.
Die Lebenswege dieser drei grundverschiedenen Menschen kreuzen sich in einer ebenfalls unbenannten Stadt. Durch die gemeinsame Liebe zur Musik, durch einen einfachen Zufall oder auch durch tiefsitzende Verzweifelung. Fricker versteht es, ihren Charakteren in all ihren Erinnerungen, Träumen und Fehlern Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Insbesondere Beba, die in dem Bordell lebt und immer wieder an ihre zerstörte Heimat und Szenen ihrer Jugend denken muss, die mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit Kunden empfängt und nur dann zum Leben erwacht, wenn sie Klavierspielen kann, ist in ihrer Trauer, ihrer Müdigkeit und Entschlossenheit auf eine berührende Art plastisch.
Isa, die sich mit Feuer und Flamme in die Geflüchtetenproteste stürzt, ist hingegen ein Charakter, der etwas flach ausfällt. Ihre Wut, ihre Ablehnung des bürgerlichen Elternhauses, ihre schneller Radikalisierung – all dies wird von der Autorin lediglich auf einer persönlichen Ebene ausgehandelt. Erklärungen, wofür sie in ihrem Protestcamp kämpfen, was für politische Forderungen sie haben, werden nur parolenhaft vorgetragen. Auch die Geflüchteten, die eigentlichen Protagonist_innen dieses Kampfes, kommen wenig zu Wort und werden oft als irrational oder gar aggressiv dargestellt.
Genauso bedenklich ist die Eskalation am Ende des Buches: Isa erschießt den Innensenator Otten, wird aber freigesprochen. Stattdessen wird ihr Freund verhaftet, woraufhin sie den Andeutungen ihres Vaters nach Selbstmord begeht. Dieses zutiefst dramatische Ende lässt angesichts der realen Ereignisse, an denen sich Fricker stark orientiert, viele Fragen aufkommen. Will die Autorin hiermit eine Warnung vor dem "Linksextremismus" aussprechen? Oder ist der Tod an dieser Stelle nur ein dramaturgisches Stilmittel?
Die Geflüchtetenproteste am Oranienplatz und in der Gerhart-Hauptmann-Schule waren soziale Kämpfe, die auf Grund von realen Unterdrückungsverhältnissen entstanden sind. Die Geflüchteten waren gleichzeitig auch politische Aktivist_innen, die konkrete Forderungen gegen Abschiebung, rassistische Polizeigewalt, die Residenzpflicht und für angemessene Lebensbedingungen stellten. Sie erfuhren nicht nur von der sogenannten "linken Szene", sondern von vielen Anwohner_innen und Bürger_innen Solidarität.
Es bedarf eines großen Verantwortungsbewusstseins, aktuelle politische Geschehnisse zu fiktionalisieren und den Gedankengang eines militanten Übergriffs im Namen dieser Bewegung zuende zu führen, denn ihre Wirkmacht ist bis heute zu spüren. In Frickers Roman ist der Protest eine bloße Hintergrundkulisse, die den Selbstfindungsprozess und die emotionale Entgleisung der Studentin Isa umrahmt. Sie ist der Anstoß für den konservativen Innensenator Otten, über seine Jugend als Linker nachzudenken und sein Familienverhältnis zu seinen verzogenen Kindern zu problematisieren.
"Lügen von Gestern und Heute", so lautet der Titel des Buches. Jedoch bleibt unklar, welche Lügen erzählt werden. Ist es die Lüge der sozialen Gerechtigkeit, die Isa erkämpfen will? Oder die Lüge der Rechtsstaatlichkeit, der Otten nachhängt? Oder ist es gar die Lüge der Geborgenheit, des Heimatgefühls, nach dem sich Beba sehnt? Fricker lässt mit ihrem Roman die offenen Fragen unbeantwortet, lässt die Geschichte am Friedhof anfangen und auch am Friedhof wieder enden. Die Geflüchtetenproteste setzten sich jedoch fort, Tag für Tag, in allen unbenannten Städten dieses Landes.
AVIVA-Fazit: Mit prägnanten Beschreibungen der Charaktere hat Fricker zwar das Innenleben ihrer drei Protagonist_innen erfolgreich portraitiert, die Kontextualisierung ihrer Handlungen und ihrer Umwelt jedoch nicht genügend vollzogen. Angesichts ihrer starken Bezugnahme auf die realen Geschehnisse der Berliner Geflüchtetenproteste wäre eine weitere inhaltliche Ausführung wünschenswert gewesen.
Zur Autorin: Ursula Fricker, geboren 1965 in Schaffhausen, der Schweiz, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie studierte in Bern Sozialarbeit und arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Ihr Debütroman "Fliehende Wasser" (2004) wurde mit dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung und mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Ihr 2012 erschienenes Buch "Außer sich", wurde im selben Jahr für den Schweizer Buchpreis nomminiert. Ursula Fricker lebt seit mehreren Jahren in der Nähe von Berlin.
Mehr Infos zur Autorin unter:
www.dtv.de/autor/ursula-fricker
Ursula Fricker
Lügen von Gestern und Heute
Deutscher Taschenbuch Verlag, erschienen April 2016
Gebunden, 368 Seiten, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-423-28073-0
21,90 Euro
Auch als E-Book erhältlich
www.dtv.de
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