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Beitrag vom 18.08.2016
Antje Schrupp - Vote for Victoria! Das wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838 - 1927)
Hai-Hsin Lu, Sharon Adler
Sie war Wunderheilerin, Prostituierte, Wall-Street-Brokerin, Zeitungsmacherin und Politikerin. Das Leben der Victoria Woodhull war facetten- und abwechslungsreich. Die Autorin portraitiert in ihrer neu erschienenen Biographie die Person Victoria und ihre politische Ideologie.
Mit Hillary Clinton steht erstmals eine Frau vor der Möglichkeit, US Amerikanische Präsidentin zu werden. "What an incredible honor that you have given me! I can´t believe we just put the biggest crack in that glass ceiling yet!" so begrüßte Clinton ihre Anhänger_innen auf dem Parteitag der Demokratischen Partei Ende Juli 2016. Laut Clinton ist sie die erste, die durch ihre Nominierung der "gläsernen Decke", die Frauen am beruflichen Aufstieg hindert, einen sichtbaren Riss zugefügt hat. Tatsächlich jedoch gab es vor Clinton bereits zahlreiche Frauen, die ebenfalls um politische und wirtschaftliche Gleichstellung kämpften und dabei in der "gläsernen Decke" nachhaltige Risse hinterlassen haben. Victoria Woodhull, geborene Claflin, stellte sich immerhin rund 150 Jahre vor Clinton sogar selbständig zur Präsidentschaftskandidatin auf.
"Mutter des amerikanischen Frauenwahlrechts"
Antje Schrupp vereint in der überarbeiteten und gekürzten Version ihres Buchs, "Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull" von 2002 (ebenfalls im Ulrike Helmer Verlag erschienen), die schillernde Persönlichkeit, die Woodhull war, mit dem gesellschaftlichen Wandel und den politischen Ideen ihrer Zeit. Denn neben ihren zahlreichen Berufen zeichnete Woodhull vor allem ihre Ideologie aus: sie war Anhängerin der Freien Liebe, gründete eine sozialistische Partei und arbeitete eng mit den frühen amerikanischen Frauenrechtlerinnen, darunter Susan B Anthony und Elizabeth Cady-Stanton, zusammen.
Armut, Außenseiterinnentum und Spiritismus
Schrupp steigt in Woodhulls Biographie ein mit der Beschreibung des theatralisch anmutenden Zeugungsakts von Victoria: Annie Claflin, Woodhulls Mutter, sank im Rahmen eines christlichen Erweckungsspektakels in religiöser Ekstase mit ihrem Ehemann Buck zu Boden, wo sie Victoria zeugten. Die Familie war neben ihrer ausgefallenen Lebensart und ihrer Affinität zum Spiritismus ausgesprochen arm – sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit Betrug und Wahrsagerei, wurden von der angeblich "respektablen" Dorfgemeinschaft verachtet. So wuchs Victoria ohne die gängigen sozialen Konventionen und Rollenvorstellungen, allerdings auch ohne Schulbildung, auf.
Entsprechend ihres familiären Umfelds entwickelte Victoria schon früh eine Art Faible für das Übernatürliche und verdiente gemeinsam mit ihrer Schwester Tennessee als Hellseherin und Heilerin den Unterhalt für die ganze Familie. Diese Jahre waren für sie prägend, denn ein Großteil ihrer Kundschaft bestand aus Unterschichtsfrauen, die mit ihren Problemen zu ihr kamen: "Victorias Kundinnen sprachen über sexuellen Missbrauch, über Vergewaltigung, über schwierige Geburten, sterbende Kleinkinder, gewalttätige Ehemänner." Diese Nähe zu den Sorgen der Arbeiterinnen sollte ihre Rolle als Politikerin maßgeblich beeinflussen.
"Sich sein Recht nehmen"
Antje Schrupp, die als Politologin und Journalistin vor allem zu Frauen im frühen Kommunismus forschte, verortet Victoria Woodhulls politische Einstellung als relativ offen. Weder mit den sozialistischen Strömungen, noch mit der feministischen Bewegung konnte sie sich hundertprozentig identifizieren. Sie vertrat in erster Linie sich selbst und ihre persönlichen Überzeugungen. Trotzdem gibt es viele Schnittstellen und inhaltliche Gemeinsamkeiten. In ihrem Wahlprogramm fanden sich beispielweise folgende Forderungen wieder: "Achtstundentag, Abschaffung der Todesstrafe, Einrichtung eines sozialen Wohlfahrtsystems für die Armen, eine öffentliche Erziehung der Kinder, die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs zur Schlichtung von Konflikten zwischen verschiedenen Ländern mit einer internationalen Armee." Woodhull solidarisierte sich ebenfalls öffentlich mit der Pariser Kommune, dem revolutionären Stadtrat, der 1871 einen Versuch wagte, die französische Hauptstadt nach sozialistischen Prinzipien zu verwalten. Sie organisierte anlässlich derer blutiger Niederschlagung im Mai desselben Jahres eine Demonstration.
Die Zeitung, die sie zusammen mit ihrer Schwester Tennessee gründete, "Woodhull and Claflin´s Weekly", behandelte unter dem Motto "Aufwärts und Vorwärts" genau die Themen, die Arbeiterinnen ihr als Heilerin nahe gebracht hatten. Die Herausgeberinnen druckten neben Artikeln über Spiritismus, Korruption, kuriosen Vorfällen, und Reportagen über herausragende Frauen als erste englischsprachige Zeitung in den USA das "Kommunistische Manifest" von Marx und Engels.
"Niemand von euch und kein Gesetz hat das Recht, mir das zu verbieten."
Ihr größter Unterschied zu den Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit bestand darin, dass sie ihren Appell nicht an Männer richtete. "Es geht also nicht darum, ob Frauen wählen dürfen oder nicht, sondern darum, ob sie wählen wollen oder nicht." Sie sprach direkt zu den Frauen und forderte sie auf, ihr Recht, das sie als Personen besaßen, einfach auszuüben. Genau in dieser Manier deklarierte sie sich 1872 zur Präsidentschaftskandidatin der von ihr selbst gegründeten "Equal Rights Party". Damit löste sie in der Öffentlichkeit einen Skandal aus – konservative Frauenrechtlerinnen wie Catherine Beecher und Harriet Beecher Stowe wandten sich vehement gegen sie. Es kam zu öffentlichen Verteufelungen und Verleumdungen, sie wurde von der Presse als "Mrs. Satan" beschimpft, die den moralischen Verfall herbeiführen würde.
Auf die provozierende Publikumsfrage bei ihrer öffentlichen Rede in Steinway Hall, ob sie der Freien Liebe zugewandt sei, antwortete Victoria folgendermaßen: "Ja, ich bin eine Anhängerin der Freien Liebe. Ich habe das unveräußerliche, verfassungsmäßige und natürliche Recht, zu lieben, wen ich will, so lang oder kurz wie ich kann, diese Liebe jeden Tag zu wechseln, wenn es mir gefällt, und niemand von euch und kein Gesetz hat das Recht, mir das zu verbieten."
Dieses Zitat ist bezeichnend für Victoria Woodhulls Lebensphilosophie. Zwischen ihrer prekären Kindheit und dem Wohlstand, den sie an ihrem Lebensende erlangte, ließ sie sich nie von Sittenwächter_innen und Kritiker_innen einschüchtern, sie handelte stets nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden und scheute sich nicht, neue Denkweisen und Lebensentwüfe anzunehmen.
Victoria Woodhull heute
Sie bleibt als großartige Figur der Frauenemanzipation unvergessen: Neben Schrupps Biographien schrieb Karen J. Hicks den Roman "The Coming Woman. A Novel Based on the Life of the Infamous Feminist, Victoria Woodhull", der 2014 veröffentlicht wurde. Ein gleichnamiger Dokumentarfilm von den Rau Sisters wird derzeit produziert. Daneben gibt es zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Webseiten über Victoria Woodhull und ihr Wirken. Die "Woodhull Freedom Foundation" etwa hat es sich im Sinne Woodhulls zur Aufgabe gemacht, sexuelle Freiheit als fundamentales Menschenrecht zu etablieren.
"Vote for Victoria" ist ein passender Titel, denn eine Politikerin wie sie wird heutzutage mehr denn je gebraucht. Durch Hillary Clintons Kandidatur ist Victoria Woodhull nach mehr als einem Jahrhundert wieder in den medialen Fokus gerückt, jedoch wäre es wünschenswert, dass Clintons politische Positionen enger an die Woodhulls heranrücken würden. Dann könnte angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA ein "Victoria for Hillary!" vertreten werden.
AVIVA-Tipp: Antje Schrupps biographische Darstellung der vor fast 150 Jahren lebenden Victoria Woodhull ist trotz umfassender Informationen prägnant. Die Beschreibung ihres vielfältigen Lebens verdeutlicht, dass Woodhull ein emanzipatorisches Beispiel an politischer Intervention war, das aktueller nicht sein kann.
Zur Autorin: Antje Schrupp, geboren 1964, ist freie Journalistin, Politologin und Bloggerin. Sie studierte an der Johann Wolfgang Goethe Universität evangelische Theologie, Politologie und Philosophie und promovierte mit einer Arbeit zur weiblichen politischen Ideengeschichte ("Frauen in der Ersten Internationale"). Sie publizierte zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Artikel zu diversen Themen, unter anderem zu politischer Ideologie, Feminismus, und Religion. Sie betreibt neben ihren offiziellen Netzpräsenzen www.antjeschrupp.de und "Aus Liebe zur Freiheit. Notizen zur Arbeit der sexuellen Differenz" einen Blog spezifisch zu Victoria Woodhull, in dem sie ihre Forschungsergebnisse und Internetkuriositäten wie ein selbstgemachtes Rap-battle Video zwischen Victoria Woodhull und Hillary Clinton verlinkt.
Ein Interview von Antje Schrupp mit dem Schweizer Rundfunk in Text (14. Juni 2016) und Audio (28. Juli 2016) Format
Antje Schrupp
Vote for Victoria! Das wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838 – 1927)
Ulrike Helmer Verlag, erschienen: 2016
Taschenbuch, 139 Seiten
ISBN 978-3-89741-393-1
12,95 Euro
www.ulrike-helmer-verlag.de
Weitere Informationen zu Victoria Woodhull:
www.victoria-woodhull.com
www.facebook.com/victoriawoodhulldocumentary
www.clarinetmarmalade.com
www.twitter.com/thecomingwoman
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