Viv Albertine - A Typical Girl - Ein Memoir. Rezension und Impressionen der Buchpremiere am 27. Mai 2016 bei Dussmann das KulturKaufhaus in Berlin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 27.05.2016


Viv Albertine - A Typical Girl - Ein Memoir. Rezension und Impressionen der Buchpremiere am 27. Mai 2016 bei Dussmann das KulturKaufhaus in Berlin
Laura Seibert

Die Gitarristin und Texterin der Punkband The Slits schreibt über Musik, Machismus, Mutter-Sein, und die Schwierigkeit als politisierende Künstlerin ernst genommen zu werden. Eine Pionierin der Riot Grrrls.




"Die Musik, die ich als Jugendliche höre, ist revolutionär. Und weil ich mit Musik aufgewachsen bin, die die Welt verändern wollte, erwarte ich das auch heute noch von ihr," schreibt Viv Albertine.

Bevor die Slits Ende der 70er Jahre in England ihre ersten Auftritte spielen, hat sich in den USA bereits eine weibliche Punk-Szene entwickelt. Die bekannteste unter ihren Mitstreiterinnen ist wohl Patti Smith, die mit "Horses" großen Einfluss auf Viv Albertine ausübte. Wegbereitend für die gesamte Riot Grrrl Bewegung in den USA war außerdem Genya Ravan, eine amerikanische Sängerin und Produzentin. Ihnen folgen weitere Frauen-Punkbands, die stark politisieren: In den 90er Jahren bilden Sleater-Kinney und Bikini Kill wichtige musikalische Höhepunkt in der Riot Grrrl Szene.

Chronologisch, mit Angabe zur Jahreszahl, lässt Viv Albertine ihr gesamtes Leben in kurzen Kapiteln Revue passieren. Dabei unterhält sie mit jugendlichen Abenteuern, berichtet von intensiven musikalisch-künstlerischen Freundschaften und Liebesbeziehungen und öffnet sich auf berührende Weise hinsichtlich ihrer Krebserkrankung. Eindrücklich thematisiert das Buch die Herausforderung, Berufung, Partnerschaft und Kinder miteinander zu vereinbaren.

Über ihr Buch sagte Viv Albertine bei der Lesung: "It´s a catalogue of disasters." © AVIVA-Berlin, Laura Seibert


1954 geboren, mangelt es in ihrem direkten Umfeld an weiblichen Vorbildern, die stark und unabhängig sind, die Rock-Musikerinnen werden, die ein Instrument spielen und nicht "nur" singen. "Es gibt niemanden, mit dem ich mich identifizieren kann. Mädchen spielen nicht E-Gitarre. Und normale Mädchen wie ich schon gar nicht."

Eine Revolution. Frauen machen Punk

Als Jugendliche stellt Viv Albertine fest, dass es für Mädchen und Jungs auch unterschiedliche Arten gibt, Musik zu hören: "Normalerweise achten Mädchen nicht auf Gitarrensoli oder Riffs, das war was für Jungs." Das hält sie aber nicht davon ab, es ihnen gleich zu tun.
Beim Kauf ihres ersten Instruments, einer Les Paul Junior-E-Gitarre, schlägt Viv Albertine vom Verkäufer nur Herablassung entgegen. "Und für eine elektronische Gitarre braucht man wohl einen Penis oder muss ein Genie sein wie Joni Mitchell oder Joan Baez", fasst sie die Männer-dominierte Rockkultur kritisch zusammen. Viv Albertine lässt sich davon nicht einschüchtern. Obgleich ihre NachbarInnen sie bitten, das Spielen aufzugeben, hält sie an ihrem Vorhaben fest, es zu lernen. Sie ist 22 Jahre alt und hat vorher nie Musik gemacht.
Aber es geht ihr nicht um Perfektion, sondern um Ehrlichkeit in der Musik. Das Motto dabei lautet: Do It Yourself.

Viv Albertine und die Übersetzerin Conny Lösch während der Lesung © AVIVA-Berlin, Laura Seibert


Viv, Ari, Tessa und Palmolive

1977 geht Viv Albertine zu einem Konzert der Slits in London. Ari Up, die Sängerin, Palmolive am Schlagzeug, Tessa, die Bassistin und Kate Korus an der Gitarre sind bei ihrem Live-Auftritt im Coliseum unvergleichlich – sie sind leidenschaftlich, unbändig, laut und voller Energie. Viv Albertine ist überwältigt. Sie steigt in die Band als Gitarristin ein, Kate Korus steigt aus. Fortan als Viererclique unterwegs, fallen sie überall durch ihre Kleidung und ihr Verhalten auf, sind dem täglichen Kampf in der Stadt mit Skinheads und spießigen BürgerInnen ausgesetzt. Messerattacken und Beleidigungen gehören zu ihrem Alltag.
Auch innerhalb der Punk-Szene ist es nicht einfach, sich als Frau zu behaupten. Die Unterstützung und der Respekt männlicher Kollegen und Freunde für Vivs musikalische Entwicklung – wie durch Mick Jones, den Gitarristen von The Clash, der die Zeile "He thinks it´s not kosher" in dem Song "Rock the Casbah" schrieb – sind nicht selbstverständlich. Sich ganz der Musik zu widmen, scheint nur für Männer ein gültiger Anspruch zu sein. Gitarre in einer Band zu spielen ist als Frau in den 70er Jahren revolutionär.
Die Regeln in der Szene sind äußerst streng: "Es ist okay, nicht perfekt zu sein, und durch Songs und Klamotten anzuzeigen, wie man tickt. Alles im Leben ist politisch von Bedeutung. Deshalb sind wir so gnadenlos, was die Verfehlungen anderer angeht, und verachten Nachlässigkeit," schreibt Viv Albertine über die Haltung im Punk 1977.

Radikal wie Vivienne Westwood

Durch das Buch zieht sich - neben anderen Zeitdokumenten - eine Reihe von Modefotografien, die Viv Albertine zeigen. Die Modeliebhaberin offenbart sich dabei in den Bildunterschriften: "Weiße Ballettstrumpfhose mit Naht von Freed of London, Titten-T-Shirt und Jerry-Lee-Lewis-Schlüpfer von Sex, weiße Lacklederstiefel… Outfit für tagsüber." Am häufigsten stößt die Leserin dabei auf Kleidung und Schuhe aus dem legendären Londoner Laden "Sex", den Vivienne Westwood Anfang der 70er Jahre zusammen mit Malcolm McLaren gründete. Die heute berühmte Designerin ist aber nicht nur in Sachen Mode tonangebend. Westwoods Weise zu leben beeinflusst die Punk-Szene, die sich in ihrem Laden trifft, grundlegend. Kompromisslosigkeit, Selbstbewusstsein und offene Meinungsäußerung werden durch sie zu Tugenden. Konformismus kommt für sie nicht in Frage. Für Viv Albertine ist sie role-model und Inspirationsquelle. Dementsprechend spiegeln die Modefotografien in "A Typical Girl" auch ein großes Selbstbewusstsein wieder: Nur um ein einfaches Leben zu haben, würde die junge Punk-Musikerin sich niemals konventionell kleiden.
Wie Vivienne Westwood will sie durch Kleidung schockieren und Reaktionen provozieren. Wie in der Musik geht es ihr darum, etwas zu verändern.

Auf zu neuen Ufern

Nach einigen Touren und der Veröffentlichung der Alben "Cut" 1979 sowie "Return oft he Giant Slits" löst die Band sich 1982 auf. Das Ende schmerzt die Gitarristin, Musik zu hören wird für sie unerträglich: "Es fühlt sich an, als wäre ein großer Teil von mir gestorben, zwei Drittel einfach weg."
Sie schlägt einen neuen Weg ein, studiert Film und Fotografie am London College of Printing und arbeitet ab 1987 als Regisseurin für Film und Fernsehen. Jahre später steht sie selbst in der Hauptrolle für den Langspielfilm "Exhibition" von Joanna Hogg (2013) vor der Kamera, mit der sie 2010 auch die Musik für deren Film "Archipelago" konzipiert.

Krankheit und Depression

Anfang der 90er Jahre heiratet sie einen Mann, den sie im Buch nur den "Biker" nennt. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter 1999, nachdem sie bereits mehrere Fehlgeburten erlitten hat, erfährt Albertine, dass sie an Gebärmutterhalskrebs erkrankt ist. Sich offen zur eigenen Gebärmutterhalskrebserkrankung zu bekennen, unterliegt einem Tabu, denn die für die Erkrankung verantwortlichen HPV-Viren werden vor allem beim Sex übertragen. Auch Albertine spürt diese Vorurteile beim Krankenhausbesuch. "Halt die Klappe. Hör auf. Das klingt, als wäre ich eine echte Schlampe," denkt sie, als die Ärztin darauf hinweist, dass Gebärmutterhalskrebs nur bei sexuell aktiven Frauen auftritt. In Deutschland werden nach Angaben des Krebsinformationsdienstes 2016 etwa 4.300 Neuerkrankungen erwartet. "Je nach Studie kommen zwischen 50 und 80 von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens mit den Viren in Kontakt." Die Infektion betrifft demnach jede zweite Person. "Jedoch wirkt sich die Infektion nur bei einem geringen Prozentsatz der Betroffenen ernsthaft auf die Gesundheit aus."
Die Krankheit, die Chemotherapie und die Ungewissheit über deren Ausgang stürzen die Musikerin in eine schwere Depression, die jahrelang anhält.

Vivs Beginn als Solokünstlerin

"Wenn man die Wahl hat zwischen etwas Verkehrtem und Nichts, muss man sich für das Nichts entscheiden, egal wie groß die Angst ist."
Nach dem Ende der Slits vergehen drei Jahrzehnte bis Viv Albertine 2012 ihr erstes Solo-Album "The Vermilion Border" herausbringt. Und bis dahin ist es ein langer Weg. 2008 beginnt sie wieder Gitarre zu spielen, schreibt Texte über ihren Alltag, studiert Gesang. Für ihr künstlerisches Schaffen nach Jahren der Krankheit und Aufopferung für die Familie erhält sie keine Unterstützung von ihrem Mann, er bezeichnet sie als "alt" und "irre", ihre wiedergewonnene Energie und Kreativität erkennt er nicht an. Sobald sie genug Geld für die Anwaltskosten hat, lässt sie sich von ihm scheiden.

Ein Jahr später schreibt Carrie Brownstein, die Gitarristin von Sleater-Kinney, nach einem Konzert von Viv in Brooklyn, dass sie seit langem wieder "echte Furchtlosigkeit", "Unbehagen" und ein wunderschön-verstörendes Gitarrenspiel erlebt hat.
Eine große Bewunderin ihrer Musik ist auch Viv Albertines Tochter, für die sie als selbstbewusste und unabhängige Mutter ein Vorbild sein will. Die Bedeutung der Beziehungen zwischen Frauen, mit anderen KünstlerInnen und in der eigenen Familie, wird immer wieder deutlich. Nicht ohne Grund schließt sie ihr Buch mit einer Bestandsaufnahme "Hier bin ich im Moment – Winter 2013", die sie mit folgenden Worten beginnt: "Ich habe ein tolles Verhältnis zu meiner klugen, schönen Tochter, meiner Schwester und meiner Mutter."
Den Grundsatz der Ehrlichkeit aus der Londoner Punkzeit gibt Viv Albertine nicht auf, auch wenn sie damit nach wie vor aneckt: "Heute bin ich den meisten Menschen zu gerade heraus, sie finden es unhöflich, wenn man die Wahrheit sagt. `Punk´ war das einzige Mal, dass ich dazugepasst habe. Eine ganz kurze Zeit, in der es akzeptabel war, zu sagen, was man denkt. Vielleicht hatte ich Glück, das erlebt zu haben."

AVIVA-Tipp: "A Typical Girl" ist die authentische Autobiographie einer Frau, die sich als Künstlerin immer wieder neu erfindet und ganz neue Maßstäbe setzt, was ein typisches Mädchen alles macht und kann: Erst als Punk-Musikerin mit E-Gitarre, Regisseurin, Schauspielerin und zuletzt als Sängerin, die Texte über das Leben von Frauen über fünfzig schreibt. Viv Albertine stellt den komplexen Verlauf ihres Lebens vor, das nicht auf eine einzige bestimmte Tätigkeit hinarbeitet, aber in dem sie immer nach Ausdruck der eigenen Kreativität strebt. Entstanden ist ein wichtiges Zeitdokument, das nicht nur für Punkbegeisterte absolut lesenswert ist.

Zur Autorin: Viv Albertine, geboren 1954 in Australien, ist in London aufgewachsen und lebt dort mit ihrer Tochter. Ihr erstes Bandprojekt hieß The Flowers of Romance, die nie einen Song veröffentlichten. Nach der Auflösung der Slits beteiligte sie sich an mehreren Bandprojekten. In den 80er und 90er Jahren arbeitete sie als freie Filmemacherin für das englische Fernsehen. Seit 2008 macht Viv Albertine wieder Musik. 2010 nahm sie die EP "Flesh" auf und mit "The Vermilion Border" erschien 2012 ihr erstes Soloalbum.



Viv Albertine im Netz:

vivalbertine.com
www.facebook.com/vivalbertine
twitter.com/viv_albertine

Zur Übersetzerin: Conny Lösch lebt in Berlin. Allein für Suhrkamp übersetzte sie 23 Bücher aus dem amerikanischen und britischen Englisch ins Deutsche, die Romane von Gail Jones übersetzte sie aus dem Australischen. Die Übersetzerin lebt in Berlin.
Mehr Infos zu ihr und ihrer Arbeit im Interview mit dem Ox-Fanzine: www.ox-fanzine.de und unter: www.suhrkamp.de

Viv Albertine
A Typical Girl - Ein Memoir

Originaltitel: Clothes, clothes, clothes. Music, music, music. Boys, boys, boys: a memoir
Aus dem Englischen von Conny Lösch
suhrkamp taschenbuch, erschienen 09.05.2016
Klappenbroschur, 478 Seiten
ISBN 978-3-518-46675-9
18,00 EUR
www.suhrkamp.de

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Literatur

Beitrag vom 27.05.2016

AVIVA-Redaktion