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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.04.2016


David Grossman - Kommt ein Pferd in die Bar
Yvonne de Andrés

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Friedensaktivist erzählt meisterhaft die Geschichte des unglücklich verwaisten Dovele Grinstein, Sohn von Shoah-Überlebenden. Hinter dessen verzweifeltem Ausdruck der Grimasse tritt ein schmerzhafter Held hervor.




Im Keller einer Kleinkunstbühne tritt an einem heißen Augustabend der Stand-up Comedian Dovele Grinstein in der israelischen Küstenstadt Netanja auf. Er ist ein kaputtes, verzweifeltes, mickriges, bebrilltes Männlein mit Cowboystiefeln. Auf eine ganz besondere Art zelebriert er mit seinem Bühnenprogramm seinen Geburtstag. Der Komiker lädt zum Schenkelklopfen ein. Possen reißend springt er mit dem Publikum um. Der Ton ist sehr direkt, abwertend und vulgär. "Schnullermündchen", "Frisurkonstruktionen die an den Reaktor in Dimona erinnern", "Kebabschnecken", "Arschfrage", etc.. Das sich langsam einfindende Publikum wird im Stakkato mit Witzen, Zoten und Anzüglichkeiten überhäuft.

Dovele Grinstein konfrontiert sein Publikum mit seiner Lebensgeschichte: "Nun denn, Brüder und Schwestern, seid ihr bereit? Hier kommt die irrsinnig komische Geschichte über die erste Beerdigung meines Lebens…" Jetzt setzt ein ungezügelter Redestrom ein. Er ist nicht mehr Komödiant, sondern erzählt, in einem sehr persönlichen Erzählstrom seine tragische Familiengeschichte. Seine Eltern waren Shoah-Überlebende . Als er mit 14 zu seiner "ersten Beerdigung", der seiner Eltern, gefahren wurde, traktierte man ihn vier Stunden lang mit Witzen. Der Witz: "Kommt ein Pferd in eine Bar" steckt ihm deshalb noch im Hals. Der ihn Militärangehörige, der ihn in Beer Ora abholt, glaubte offenbar, dass auf diese Weise die Schrecken und Ängste des Jugendlichen gebändigt werden könnte.

Mit Clownerie hatte er seither versucht, sein Leben zu meistern, doch das ganze Elend hinter dem Komödianten tritt immer mehr zum Vorschein. Die Zuhörer_innen wissen bald nicht mehr, ob ihnen bei den Witzen das Lachen im Halse stecken bleiben soll. Gleichzeitig wird die Luft in dem Keller immer dicker und stickiger. Dovele Grinstein hält in seinem Programm den Anwesenden den Spiegel vor und schreitet wichtige Themen der israelischen Gesellschaft ab: das traumatisierte Familienleben von Shoah-Überlebenden und deren Kindern in Israel, das Leben in einer Gesellschaft, die sich unfreiwillig im dauernden Kriegszustand befindet und deshalb manches Mal Gefühle von Liebe, Freundschaft und Vertrauen beiseite legt. An diesem Abend macht der Comedian sein Publikum zu Geiseln seiner und ihrer eigenen Geschichte. Diese Geschichte bewegt sich immer auf einem schmalen Grad zwischen Tragödie, Farce, Selbstmitleid, Höllengelächter und Höllenpein.

Avischai, ein pensionierter Richter, ist die zweite Hauptfigur im Roman. Dovele Grinstein hat ihn eingeladen und gebeten, sein Program zu beurteilen. Über Avischai sagt Dovele: "Nein, ich, ich bin nicht zufällig auf dich… ich weiß, was ich sage. Habe es doch in der Zeitung verfolgt, wenn du Prozesse geleitet hast. Was du über Angeklagte und auch über Anwälte gesagt hast, wie du deine Urteile begründet hast, das war immer messerscharf. […] Das war manchmal richtige Literatur."

Der pensionierte Richter ist der Chronist des aus dem Ruder laufenden Abends. Seit drei Jahren ist er im Ruhestand, denn: "Für den Geschmack unserer Justiz waren meine Urteile etwas zu scharf geworden." Anders als Dovele hat Avischai komplett verdrängt, was er als Vierzehnjähriger gemeinsam mit dem Freund in Beer Ora in einem paramilitärischen Jugendcamp der Gadna erlebt hat. Damals verleugnete er ihn und ließ ihn im Stich.

Die Stimmung wird immer unwirklicher und die Beklemmung nimmt zu. "Die Leute werfen sich Blicke zu, rutschen unruhig auf den Stühlen herum. Sie wären längst gegangen oder hätten ihn sogar von der Bühne gepfiffen, wenn da nicht etwas Verlockendes wäre, etwas, dem man nur schwer widerstehen kann. Ein Blick in die Hölle von jemand anderes." Diesen Blick sollte frau aushalten.

Zum Autor: David Grossmanwurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Er hat Philosophie und Schauspiel an der Hebrew University in Jerusalem studiert. Grossman war für das israelische Radio als Redakteur und Rundfunksprecher tätig und hat Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Von ihm liegen auch Sachbücher und Interviews mit Palästinensern und israelischen Arabern vor. 1991 erhielt der Schriftsteller und Friedensaktivist den Nelly-Sachs-Preis, 2008 den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2011 den Prix Médicis étranger für Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Zuletzt sind folgende Bücher von ihm auf Deutsch erschienen: "Diesen Krieg kann keiner gewinnen" (2003), "Das Gedächtnis der Haut" (2004), "Die Kraft zur Korrektur" (2008), "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (Roman, 2009), "Die Umarmung" (2012), "Aus der Zeit fallen" (2013) und "Kommt ein Pferd in die Bar" (2016).

Zur Übersetzerin: Anne Birkenhauer 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie übersetzt u.a. Sara Shilo, Eshkol Nevo, Aharon Appelfeld, Chaim Be´er, Daniella Carmi und David Grossman.

AVIVA-Tipp: Verstörend brillant. Dieser Roman geht unter die Haut und fordert eine intensive Beschäftigung mit dem heutigen Israel und seiner Geschichte. David Grossman zeigt in seinem Plädoyer für Menschlichkeit und gegen Verhärtung und Indifferenz eine Zerrissenheit seiner Figuren und der politischen Situation, die beim Lesen nicht unberührt lässt. Ein schockierender, großartiger Roman.

David Grossman
Kommt ein Pferd in die Bar

Originaltitel: Sus echad nichnas lebar
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag, Fester Einband, 256 Seiten
19,90 Euro [D] / 20,50 Euro [A]
Hanser Verlag, erschienen am 01.02.2016
ISBN: 978-3-446-25050-5
www.hanser-literaturverlage.de

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"Das Schweigen meiner Mutter" von Lizzie Doron (2011)

"Es war einmal eine Familie", von Lizzie Doron (2009)

"Der Anfang von etwas Schönem" von Lizzie Doron (2007)

"Ruhige Zeiten" von Lizzie Doron (2005)




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Beitrag vom 27.04.2016

Yvonne de Andrés