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Beitrag vom 26.04.2016
Anna Mitgutsch - Die Annäherung
Ahima Beerlage
Hat die österreichische Autorin in ihren Romanen vor allem die Suche nach der jüdischen Identität nach der Shoa thematisiert, wechselt sie in ihrem neuen Roman die Perspektive und taucht ein...
... in das Schweigen, das in den Verbrechen der Nazis zur Mittäterschaft war.
Die Meisterin zwischen den Welten
Anna Mitgutsch ist eine Meisterin darin, wortgewaltig und unerschrocken sich den Rätseln und Randbezirken unserer Welt zu stellen. Ihre Romane widmen sich dabei besonders drei Themenkomplexen: Den Randgebieten menschlicher Gesellschaft ("Die Züchtigung", "Ausgrenzung", "In fremden Städten", "Zwei Leben".) und der jüdischen Identitätssuche nach der Shoa und der Gründung des Staates Israel (in ("Abschied von Jerusalem", "Haus der Kindheit", "Familienfest".). In ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit stellt sie in einer "Welt die Rätsel bleibt" PhilosophInnen subjektive Fragen nach dem Unsagbaren und der Fremdheit in der Welt und in "Die Grenzen der Sprache" "wagt sie sich buchstäblich an das Unaussprechliche.
Mobile des Schweigens
In ihrem neuen Roman "Die Annäherung" hängen alle ProtagonstInnen wie in einem Mobile in immer gleichem Abstand aneinander, unfähig, sich einander zu nähern. Theo kehrt aus dem 2. Weltkrieg zurück und kann die Liebe zu Wilma nicht mehr empfinden, heiratet sie aber aus Pflichtgefühl. "Erst nach ihrem Tod war ihm bewusst geworden, dass das, was die Ärzte damals ihre Gemütskrankheit nannten, ein langsames Ersticken an ihrem von Mangel eingegrenzten Leben gewesen war. Für ihre Träume von einem anderen Leben hatte er keine Geduld."
Sicherheit statt Liebe
Er heiratet ein zweites Mal. "Berta war schon früh auf sich allein gestellt gewesen und hatte eine klare, realistische Vorstellung davon, was sie vom Leben erwartete." Ihre unbedingte Liebe zu ihm gibt ihm Halt und das Gefühl, angekommen zu sein. Doch Berta kann und will Theo nicht teilen – auch nicht mit seiner Tochter aus erster Ehe. Theo, emotional überfordert, trennt sich von Frieda, um seine Ehe nicht zu gefährden. Verletzt verlässt die Tochter das Haus.
Mauern des Schweigens
Aus dem Haus vertrieben, bohrt Frieda immer wieder nach, wo er in die Nazizeit war. Theo wehrt sich. "Ich habe nicht getan, wofür ich mich schämen müsste. Für die Verbrechen der anderen kann ich nichts. Frieda erreicht ihn nicht und gibt schließlich auf. "Unser ganzes Leben lang war die Distanz zwischen uns gewesen. …Ob diese Berührungsangst von mir oder von ihm ausging oder von beiden gleichzeitig, habe ich nicht ergründen können.
Kurzzeitiges Glück
Während Friedas Tochter Melissa ihrem Großvater fremd bleibt, fühlt Theo sich Friedas Sohn Fabian auf tiefste Weise verbunden. Theo verbringt so viel Zeit wie eben möglich mit seinem Enkel. Doch Fabian stirbt auf einer Reise und die Trauer darüber entfernt Vater und Tochter noch weiter voneinander.
Zunehmende Isolation
Während Theo sich in seiner Trauer über den Tod seines Enkels noch tiefer in sein Schweigen zurückzieht, verliert Frieda ihren Bezug zur Welt. "Wir werden unsichtbar, lange bevor wir uns nutzlos fühlen, auch unseren Nächsten geraten wir aus dem Blick wie Gegenstände, die schon lange am gleichen Platz verharren."
Resignation
Erst als Theo hinfällig wird, ändert sich die Statik des Mobiles, in dem sich bisher alle auf Abstand gehalten haben. Berta, inzwischen selbst alt, muss Frieda um Hilfe bitten. Frieda besorgt ihnen Ludmilla aus der Ukraine als Pflegerin. Mit ihrer unbedarften Zuneigung weckt diese in Theo lang vergrabene Gefühle. Theo, bisher bedrängt von den Bedürfnissen seiner Frauen und seiner Tochter, kann sich der Fremden gegenüber öffnen und fühlt sich geliebt. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis Bertas Eifersucht Ludmilla aus dem Haus treibt. Die Ukrainerin kehrt in ihre Heimat zurück.
Letzte Hoffnungen
Theo bittet seine Tochter, die Pflegerin zurückzuholen. Im Gegenzug bekommt sie sein Kriegstagebuch. Ein Schritt, der für Frieda bedeutender ist als für Theo. Mit einem Freund macht sie sich auf den Weg in die Ukraine. Dabei will sie die Stationen, die der Vater in seinem Tagebuch beschreibt, abfahren, um sich ein Bild über die verschwiegenen Jahre zu machen.
Enttäuschung
Frieda begegnet mit ihrem jüdischen Freund ausgerissenen jüdischen Wurzeln, verwüsteten Friedhöfen, zu Cafés umfunktionierten verlassenen Synagogen, verblassten hebräischen Schriftzeichen über enteigneten Läden, Löcher in Türpfosten, wo einst die Menora befestigt war. Nichts davon findet sich in Theos Kriegstagebuch wieder. "Nur die penible Buchführung der Namen verwundeter und gefallener Kameraden, der Gefechte und abgeschossenen Panzer, …als ginge das, was um ihn herum geschah, über sein Auffassungsvermögen oder über seinen Verstand."
Offenes Ende
Die Verwüstungen des Krieges sind für Frieda auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg zu finden. Wie offensichtlich müssen sie erst gewesen sein, als Theo Soldat war? Frieda beginnt nur zu begreifen, dass Theo bereits im Krieg sein Verhalten, wegzuschauen und zu schweigen, begonnen haben muss. Am Ende bleibt nur die Frage, ob Schweigen, Entfernung, Schuld und Tod die Familie auch weiter bestimmen werden...
Gelungener Spagat
Anna Mitgutsch schafft es in einzigartiger Wortgewandtheit Menschen zu beschreiben, deren Überlebensmittel das (Ver)schweigen zu sein scheint. Mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen wendet sie sich der TäterInnengeneration zu, die ihre neue bürgerliche Idylle auf dem Schweigen über die Vergangenheit aufgebaut hat. Sie schildert aber auch auf eindringliche Weise den Preis, den die nachfolgende Generation dafür zu zahlen hatte.
AVIVA-Tipp: "Die Annäherung" ist eine einfühlsame Studie über die Gräben der Sprachlosigkeit, die zwischen der TäterInnengeneration und ihren Kindern herrscht. Dabei schafft es Anna Mitgutsch in ihrer bildreichen Sprache, die Verwüstungen der Wortlosigkeit aller Beteiligten nicht zu denunzieren, sondern erlaubt es den Lesenden, Mitgefühl für die Beteiligten aufzubringen. Für Frauen und Männer der TäterInnengeneration, deren Eltern noch den Krieg als Handelnde erlebt haben, ein mitunter anstrengendes, aber auch erhellendes Buch.
Zur Autorin: Anna Mitgutsch, geboren 1948 in Linz. Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg, Dr. Phil. 1974. Assistentin an der Amerikanistik der Universität Innsbruck, Lehrtätigkeit an britischen Universitäten (Hull University, University of East Anglia) und in Seoul, Südkorea. In den Siebziger/Achtziger Jahren Assistant Professor an amerikanischen Universitäten und Colleges in New York (Sarah Lawrence College) und in Massachusetts (Amherst College, Tufts University, Simmons College, Emmanuel College). In den Neunziger Jahren writer-in-residence an verschiedenen amerikanischen Universitäten (Oberlin College, Allegheny College, Lafayette College) und Lehraufträge an österreichischen Universitäten (Salzburg, Graz und Innsbruck). Lebte dreißig Jahre abwechselnd in Linz und Boston. Seit 1985 freischaffende Schriftstellerin und Essayistin.
2015 erhielt Anna Mitgutsch das Ehrendoktorat der Universität Salzburg.
(Quelle: Website der Autorin)
Weitere Infos unter: www.anna-mitgutsch.at
Anna Mitgutsch
Die Annäherung
Luchterhand Literaturverlag, erschienen 08.03.2016
Gebundene Ausgabe, 448 Seiten
ISBN-10: 3630874703
ISBN-13: 978-3630874708
22,99 Euro
www.randomhouse.de
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Literatur ist die Sehnsucht, dem Unaussprechlichen doch noch einen sprachlichen Ausdruck zu geben. In siebzehn Essays begibt sich die Literaturwissenschaftlerin Anna Mitgutsch auf Spurensuche. (2014)