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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.04.2016


Eula Biss - Immun. Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung
Angelina Boczek

Nicht nur in Deutschland gibt es eine "Impfdebatte". Vor allem junge Eltern fragen sich, ob sie ihre Kinder "durchimpfen" lassen sollten. Die amerikanische Autorin, eine Impf-Befürworterin, will anhand der eigenen Geschichte mit ...




... ihrem neugeborenen Sohn überzeugen.

Eingebettet sind die Sachinformationen in einen Erzähltext, der das Lesen und Verstehen für Laien einfacher macht, als eine Aufreihung zahlreicher, komplexer medizinischer Erklärungen mit vielen Fremdwörtern. Dennoch kommen naturwissenschaftliche Fakten zur Sprache und werden verständlich beschrieben – auf Sachliteratur ist die Verfasserin spezialisiert, sie lehrt Non-Fiction Writing an der Universität Illinois und hat sich ausführlich mit dem Thema "Impfen" beschäftigt.

Gleich zu Beginn lenkt Eula Biss unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Impfen etwas zu tun hat mit Vertrauen bzw. Misstrauen, mit Vorurteilen und - Angst: "Da durchstößt eine Nadel die Haut – ein so grundstürzender Vorgang, dass manche schon bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen -, und eine fremde Substanz wird direkt ins Fleisch gespritzt." – zumeist gesunden Menschen. Sie bringt Beispiele aus Geschichte, Philosophie, Religion und Mythologie (Dracula und andere Vampirmythen), die diffuse Ängste bei den Menschen befördern, wenn es ums Impfen geht.

Die Autorin stellt bereits auf den ersten Seiten klar, dass das Risiko, zu erkranken bei ungeimpften Personen, die umgeben sind von geimpften, wesentlich geringer sei: "Diejenigen, die sich auf die kollektive Immunität verlassen, verdanken ihre Gesundheit den Nachbarn." Dieses (zentrale) Argument taucht, abgewandelt, im Buch immer wieder auf und ist eine der Argumentationssäulen der Autorin FÜR das Impfen. Es gehe um Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber, immun zu sein: "Unser körperliches Wohlergehen steht immer im Zusammenhang mit Entscheidungen, die auch andere betreffen", wir alle seien nicht unabhängig voneinander zu betrachten, was Vorsorge-Impfungen betrifft.

Nicht zuletzt macht sie den sprachlichen Umgang dafür verantwortlich, Ängste, ja Paranoia zu schüren: Es werde oft von einer "Invasion" bei Viren gesprochen, einer "Kolonisierung", der Körper schicke Zellen als "Infanterie", das Immunsystem antworte mit einer "Bombe, die hochgehe" – oder auch nicht, das sei Kriegsrhetorik. Wünschenswert sei, wenn im Sprachgebrauch nicht davon Rede wäre, dass die Wintergrippeimpfung "injiziert" werde, sondern zum Beispiel: "Die Wintergrippeimpfung schützt Menschen vor dem Wintergrippevirus". Sie glaubt, dass negative Assoziationen hervorgerufen werden durch Begriffe wie "injizieren".

Engagiert erklärt sie, weshalb nicht nur eine Hepatitis-B-Impfung bereits im frühen Kindesalter obligatorisch sein sollte, sondern auch alle anderen Impfungen.
Oft zitiert sie im Text ihren Vater, einen Arzt: "Impfen funktioniert dann ... wenn man eine Mehrheit auf den Schutz einer Minderheit verpflichtet." Sie hält eine Grippe- oder Masernimpfung, die unter Umständen ein Individuum im Einzelfall nicht ausreichend immunisiert, dennoch für wirkungsvoll. Es falle Viren wesentlich schwerer, "von Wirt zu Wirt zu springen", die Verbreitung von Viren werde "aufgehalten, was sowohl allen Nichtgeimpften als auch denjenigen zugute kommt, die von der Impfung nicht immunisiert worden sind".

Natürlich widmet Eula Biss sich den Argumenten der Impf-GegnerInnen, dem "Recht am eigenen Körper" ("Zwangsimpfungen"), den Geschichten von krankheitsauslösenden Impfungen, was sie nicht bestreitet, sie findet aber, dass solche Wahrnehmungen oft in einem verzerrten oder falschen Kontext stünden. Sie stellt sich der Kritik, Impfstoffe würden giftige Substanzen und andere krankmachende Chemikalien enthalten. Ausführlich begegnet sie dieser Annahme und versucht sie zu entkräften. Die Desinfektion der Hände hält sie für wirkungslos, auch die sogenannte "alternative Medizin" helfe nicht, sich gegen ansteckende Krankheiten zu immunisieren: "Der Irrglaube an eine umfassende natürliche Immunität des Körpers" sei eine verführerische "Art präindustrieller Nostalgie".

Immer wieder erinnert Eula Biss an die Entdeckung und Erforschung von Impfstoffen, zum Beispiel gegen die Pocken, an neuere und historische, verheerende Epidemien, wie auch die der Polio und wie segensreich Impfungen sich auf die gesamte Menscheit auswirkten.
Das Buch ist am Schluss mit einem Anmerkungsteil versehen und einer Liste "Ausgewählte Quellen".

AVIVA-Tipp: Eula Biss hat ja Recht, die Rezensentin musste nicht überzeugt werden. Hier und da stören die aus der amerikanischen Kultur stammenden Berichte von Vorurteilen gegen das Impfen, die wir weniger nachvollziehen können. Auch hätte der Text weniger ausufernd sein können. Die Autorin bringt in dem Buch Randthemen unter und immer wieder kleine, private Geschichten zum Thema, die uns LeserInnen ein wenig zu konstruiert erscheinen. Ob ImpfgegnerInnen durch dieses Buch umgestimmt werden können, bleibt dahin gestellt. Unsichere KandidatInnen aber schon, Biss liefert genügend "Munition", das Impfen ihrer Kinder zu veranlassen oder sich selbst in der kommenden Saison gegen Grippe impfen zu lassen.

Zur Autorin: Eula Biss lehrt Non-Fiction Writing an der Northwestern University von Illinois. Für ihr Buch "Notes from No Man´s Land" erhielt sie 2009 den National Book Critics Circle Award. Biss war u.a. Stipendiatin der Guggenheim und der Howard Foundation. Sie gewann außerdem den 21th Century Award der Chicago Public Library Foundation. Eula Biss lebt in Chicago.
Mehr Infos zur Autorin unter: www.eulabiss.net


Eula Biss
Immun. Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung

(Originaltitel: "On Immunity. An Inoculation", Minneapolis, 2014, Garywolf Press)
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann
Carl Hanser Verlag, 1. Auflage erschienen 22.02.2016
240 Seiten. Gebunden. Schutzumschlag.
ISBN 978-3-446-44697-7
19,90 Euro
Auch als E-Book: 978-3-446-44705-9

Weitere Informationen und ein Kurzinterview mit Eula Biss unter:
www.hanser-literaturverlage.de


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Beitrag vom 16.04.2016

Angelina Boczek