AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 16.04.2016
Melanie Mühl - 15 sein. Was Jugendliche heute wirklich denken
Angelina Boczek
Gut recherchierte "Geschichten" der Journalistin und Redakteurin Melanie Mühl von und über Jugendliche, "Sachgeschichten", in denen sichtbar wird, wie Jugendliche "ticken" und was Erwachsene an heutigen Jugendlichen nicht verstehen können oder kritisieren.
Es liegt auf der Hand, dass die Autorin die Benutzung und den Umgang mit den neuen Medien, die von Jugendlichen benutzt werden, in den Fokus stellt. Das ist einleuchtend, da sich das Leben, der Alltag von uns allen (fast allen) durch das Internet umwälzend verändert hat – global.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Rückzugsort "Jugendzimmer". Das eigene Zimmer sei inzwischen nicht mehr nur "Abschottungsraum" sondern vor allem "Kommunikationszentrale". Von Eltern unbemerkt könnten dort Kontakte gepflegt werden, Selbstinszenierungen geprobt, Spiele gespielt, Informationen erworben und ausgetauscht werden. Welche Kanäle für die Jugendkommunikation angesagt sind, wie sie funktionieren und welche "Gefahren" damit verbunden sind, werden in den weiteren Kapiteln erläutert, es geht um Instagram & Co., YouTube, YouNow, Gamen usw.
Fernsehen spiele für Jugendliche zwar keine große Rolle mehr, einige Sendungen aber doch. Mühl widmet der "erfolgreichsten Märchenerzählerin des deutschen Fernsehens ... Heidi Klum" ein ganzes Kapitel. "Germany´s Next Topmodel" (GNTM) zu schauen und darüber zu sprechen, sei für Mädchen ein MUSS. Treffend beschreibt die Autorin, dass dort die tradierten Rollenmuster auf die Spitze getrieben und die Kandidatinnen "in Endlosschleife" gedrillt werden, "damit sie am Ende ein marktkompatibles Produkt abgeben". Viele Mädchen aber finden dort ihre Vorbilder.
Mit dem "Schönheitswahn" geht es weiter: "Mädchen wird bereits früh suggeriert, dass Schminken zu den Weiblichkeitserwartungen in einer auf Oberflächenschönheit fixierten Gesellschaft gehört". Sich zu schminken wie ein Star sei das Ziel und, so zurechtgemacht, Fotos zu posten. Zu dem Bild von "makelloser Schönheit" gehöre inzwischen auch die vollständige Enthaarung bei jungen Frauen und die Intimrasur. Mühl erinnert daran, dass an der Propagierung dieser Mode die "Populärmedien – besonders die Frauenzeitschriften" nicht unbeteiligt waren. Werbemodels seien spätestens ab 2007 intimrasiert gezeigt worden, inzwischen sei die Rasur zur Norm geworden, zur Selbstverständlichkeit. Abgesehen vom Effekt der Makellosigkeit erinnere die Intimrasur an präpubertierende Mädchen...
In Zusammenhang mit dem veränderten Begriff von Schönheit steht auch die Magersucht und andere Essstörungen, die Autorin schreibt: "Schlank sein bedeutet schön zu sein. Und Schönheit verspricht Erfolg. ... Wer schön sein will, muß leiden und Körpermanagement betreiben. ... Für Jugendliche ist es oft schwer zu verstehen, dass die in Magazinen abgebildeten Models digital nachbearbeitet wurden und in Wahrheit ganz anders aussehen."
Im Internet gäbe es zahllose Diät-Blogs, in einem heißt es: "Dünn sein ist wichtiger als gesund sein".
Freundschaft unter Jugendlichen ist ohne digitale Werkzeuge offensichtlich kaum mehr möglich. Mühl meint dazu, sie seien "digitale Kommunikationsprofis, ... vorbildliche Freundschaftspfleger, denen keine WhatsApp-Nachricht zu viel, kein Chat zu langweilig, kein Like zu mühsam ist und selbst kurz bevor sie einschlafen noch Emojis versenden."
Am Beispiel einer Frankfurter Freundinnengruppe versucht sie darzustellen, dass zwischen den Mädchen gerade wegen des ständigen Handy-Kontakts enge Bindungen entstanden sind. Eine Peergroup, in der sich die Mitglieder aufgehoben fühlen (es allerdings auch leichter macht, andere zu "mobben": "Nie war es so einfach, einen Ruf zu ruinieren.").
Von dem Begriff "Generation Porno" hält Mühl nichts, das sei ein Mythos, vor allem Mädchen interessierten sich dafür eher nicht. Immer noch sei Mädchen und Jungen "Liebe" wichtig, auch wenn sie sich (wie viele Erwachsene) digitaler Dating-Apps bedienen. Erste Kontakte aufzubauen sei so wesentlich leichter, ersetze aber das persönliche Treffen nicht.
Zwar verliebten sich Jugendliche in immer jüngerem Lebensalter, dennoch seien Werte wie "Familie, Freundschaft und Partnerschaft die wichtigsten Ziele im Leben" von den meisten Jugendlichen. Und: Die Jugend liest weiterhin auch Bücher, der Marktanteil verkaufter Kinder- und Jugendbücher liege bei 17,4 Prozent, gemessen am erwirtschafteten Gesamtumsatz der Buchbranche.
Im Wechsel von jeweils durchaus kritischen Textbeiträgen der Autorin Mühl folgen Textpassagen, oft in Ich-Form, in denen Jugendliche zu Wort kommen. Sie zitiert vielfach Fachleute, "ForscherInnen", "WissenschaftlerInnen", PädagogInnen, Kriminologen usw., die ihre Aussagen untermauern sollen. Melanie Mühl, 1976 geboren, zeigt oft am Schluss eines Kapitels in knapper Form, was in ihrer Jugendzeit en vogue war, was sie selbst von den Themen oder dem Verhalten hält, das ist klug!
Häufig weist sie auf die Suggestion der Werbung hin, der auszuweichen für Jugendliche fast unmöglich sei, zudem seien die WerbestrategInnen, Trendscouts, SchönheitsdiktatorInnen mit immer ausgefeilteren "Waffen" am Werk.
AVIVA-Tipp: Ob Erwachsene nach der Lektüre der ausschnitthaften Betrachtungen wissen, "was Jugendliche wirklich denken", bezweifle ich.
Das Fazit lautet: Alles halb so wild mit Vorwürfen wie: Performer, Styler, EgoistInnen, viele Verhaltensweisen sind altbekannt und jugendtypisch oder allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen geschuldet – vor allem der digitalen Revolution.
Zur Autorin: Melanie Mühl, 1976 in Stuttgart geboren, wuchs in Bayreuth auf. Sie studierte Germanistik und Journalismus an der Universität Karlsruhe und der Queens University, Kingston, Ontario. Seit Oktober 2006 ist sie Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die sie auch regelmäßig den Blog "Food Affair" schreibt. 2009 wurde sie mit dem Preis BergWelten ausgezeichnet. Im Nagel & Kimche Verlag ist von ihr erschienen: "Menschen am Berg. Geschichten vom Leben ganz oben" (2010). Im Carl Hanser Verlag: "Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift" (2011) und zusammen mit Diana von Kopp "Die Kunst des klugen Essens" (2016).
Melanie Mühl auf Twitter: twitter.com/melaniemuehl
Melanie Mühl
15 sein. Was Jugendliche heute wirklich denken
Carl Hanser Verlag, 1. Auflage, erschienen 22.02.2016
218 Seiten. Klappbroschur.
Buch Euro 18,90, E-Book Euro 14,99
Weitere Informationen unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Diana Marossek – Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden
Niemand muss beunruhigt sein, der Untergang des (deutschsprachigen) Abendlandes steht nicht bevor, wenn solche Sätze fallen: "Ich geh Sport" (Ich gehe zum Sport) – "Er war Frisör" (Er war beim Frisör) – "Bist du Auto?" (Bist du mit dem Auto gekommen?) (2016)
Eva Barlösius - Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt
Ein Gastbeitrag von Magda Albrecht, Aktivistin und politische Bildnerin, die sich freut, dass für diese Studie endlich mal "mit" dicken Jugendlichen gesprochen wird – anstatt nur über sie. (2015)
Nina Pauer - Wir haben keine Angst. Gruppentherapie einer Generation
Eine junge Autorin stellt sich die Frage, welche Ängste ihre AltersgenossInnen umtreiben. Wie so viele andere zuvor versucht sie, die Generation der heute 20- bis 30-jährigen zu definieren. (2011)
Myrthe Hilkens - McSex. Die Pornofizierung unserer Gesellschaft und Johannes Gernert - Generation Porno. Jugend, Sex, Internet
Wir leben in einer "pornofizierten" Gesellschaft: Bilder von (halb-)nackten Frauen, die uns oft gesichtslos von Plakaten entgegenblitzen, sogenannte Pornopartys für Jugendliche, selbstgedrehte Sexvideos, die per Handy auf Schulhöfen ausgetauscht werden, ganz ´normale´ Schulmädchen, die sich in Internetforen "Pussy, Bitch" oder "Porno Babe" nennen (2010)
Bund startet Kampagne gegen Schönheitswahn und Essstörungen
"Leben hat Gewicht" - Bundesministerinnen Schmidt, von der Leyen und Schavan stellten die Initiative gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Mode, Werbung, Kultur und Sport vor. (2007)