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Beitrag vom 23.03.2016
Wär mein Klavier doch ein Pferd, Erzählungen aus den Niederlanden. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Doris Hermanns
Ahima Beerlage
25 Jahre lebte Doris Hermanns in den Niederlanden. In ihrer Anthologie stellt die Redakteurin und Autorin uns die Erzählkunst niederländischer Autorinnen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart vor, wobei die Erzählerinnen...
... uns sehr subjektive, oft ungewöhnliche Einblicke in die wechselvolle Geschichte des kleinen Landes an der Nordsee geben.
"Es hat Jahre gedauert, bis ich begriff, dass aus hellblauem Maihimmel fallende Bomben nicht zum europäischen Klima gehörten, sondern die Folge eines allerdings sehr unglücklichen Zusammentreffens verschiedener Umstände waren: des Krieges." Ein Mädchen, aus den Indischen Kolonien eingewandert, begreift nur langsam, wie das kriegerische Europa funktioniert. Ein anderes Mädchen flüchtet vor den Nazis. aus den Niederlanden nach Paris nur um dort noch einmal den Einmarsch der Nazis zu erleben.
Zwei Kinder kehren in den Internatsferien in das elternlose Zuhause ihrer Stiefgeschwister zurück, entdecken das versteckte Buch ihrer Schwester und verlieren sich in der glamourösen Welt von "Krieg und Frieden".
Eine junge Frau hat früh ihre Eltern verloren und wird von der besten Freundin ihrer Mutter großgezogen. Das fragiles Zusammenleben der einsamen Frauen gerät aus dem Gleichgewicht, als die ältere geistig und körperlich verfällt. Familien in der Provinz in den 20er Jahren vermuten "den Teufel am Werk"., als Elektrizität und Bubikopf bei Frauen Einzug halten. Eine jüdische Autorin trifft auf ihrer Tournee in den 60er Jahren auf ein Publikum, das noch durchtränkt ist von antisemitischen Vorurteilen des gerade erst überwundenen Krieges. Zwei ungleiche Schwestern gehen ins Hamam, doch echte geschwisterliche Harmonie will auch in der von ihnen romantisierten orientalischen Atmosphäre nicht aufkommen.
"Wenn die Menschen über die Erde verstreut seien, würden sie zu besseren Menschen, zu Kosmopoliten, die überall Wurzeln schlagen könnten," so der Traum des eines Vaters, der mit seiner Familie aus den Kolonien über das Meer in das Mutterland kommt. Doch Holland ist schmutzig und "Amsterdam eine verruchte Stadt, wie Sodom und Gomorrah, wo Jungen und Mädchen einen freien Umgang pflegten, auf der Straße Hand in Hand gingen und sich sogar in der Öffentlichkeit küssten." Erst als die Tochter einen jüdischen Jungen kennenlernt, fühlt sie sich ein wenig besser verstanden in der Fremde – bis sie eine böse Überraschung erlebt.
Eine andere jüdische Familie ist vor Jahren schon aus Deutschland in die Niederlande geflohen, als die Deutschen einmarschieren. Nun haben sie den von den Niederländern verhassten deutschen Akzent und die von den deutschen gehasste Identität. Eine Fernsehjournalistin interviewt eine 80jährige, die in jungen Jahren mit ihrem Geliebten vor den strengen calvinistischen Moralvorstellungen ihrer Familien nach Kanada flieht, um ein neues Leben anzufangen. Doch die Bewohner_innen von Halifax wollen keine "Displaced Persons" mehr. Ein Mädchen und ein wilder Bär leben zusammen. Ihre Eltern waren Todfeinde und haben sich gegenseitig getötet. Solange sie nur sich haben, ist ihr Leben voller Frieden… Eine Frau bezieht eine Wohnung und verliert sich in der Frage, was Realität ist – die Dinge der Vergangenheit, die Eindrücke der Gegenwart oder das, was wir glauben zu sehen?
Die fünfzehn Erzählerinnen, kongenial übersetzt, geben uns poetisch-subjektiv und manchmal auch skurril-surreale Einblicke in Alltag und Mentalität der niederländischen Gesellschaft der letzten 100 Jahre. Mit Elisabeth Augustin, Maria Dermout, Esther Gerritsen, Sanneke van Hassel, Josepha Mendels, Marga Minco, Margriet de Moor, Ellen Ombre, Helga Ruebsamen, Annie M.G. Schmidt, Jill Stolk, Anneloes Timmerje, Manon Uphoff und Maartje Wortel hat Doris Hermanns sich versiert die erste Riege der Autorinnen ausgesucht.
AVIVA-Tipp: Obwohl die Niederlande in direkter Nachbarschaft liegen, sind ihre Autorinnen in Deutschland kaum bekannt. Umso größer ist es der Herausgeberin Doris Hermanns anzurechnen, die fünfzehn besten Autorinnen in diesem wunderschön gestalteten Buch versammelt zu haben. Sensibel und poetisch leuchten die Autorinnen selbst problematische und deprimierende Themen wie Kolonialismus und Faschismus aus. Oft wird dabei die Perspektive von jungen Menschen oder Kindern gewählt, die in ihrer Neugier auf die Welt erstaunliche Erzählperspektiven entstehen lassen, die sehr berühren. Ein gelungener und anspruchsvoller Einstieg in die von Frauen geschriebene niederländische Literatur, der zum Weiterlesen animiert.
Zur Herausgeberin: Doris Hermanns geboren und aufgewachsen nördlich von Aachen nahe der niederländischen Grenze, reiste nach dem Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie in Bielefeld nach Australien und zog später in die Niederlande, wo sie 25 Jahre blieb und als Antiquarin arbeitete. Seit 2015 lebt sie als Autorin und Redakteurin in Berlin.
Mehr Infos unter: www.aviva-berlin.de
Wär mein Klavier doch ein Pferd
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Doris Hermanns
edition fünf, 1. Auflage, erschienen 24.02.2016
Gebundene Ausgabe mit Lesebändchen, 200 Seiten
ISBN-10: 3942374757
ISBN-13: 978-3942374750
19.90 EUR (D)
Weitere Infos unter:
www.editionfuenf.de
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Doris Hermanns - Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe
Während der Name Christa Winsloe wahrscheinlich nur noch wenigen etwas sagt, ist ihr erstes Theaterstück bzw. dessen Verfilmung unter dem Titel "Mädchen in Uniform" umso bekannter. Die Antiquarin Doris Hermanns begab sich auf die Spuren einer besonderen und mutigen Frau, die trotz ihres großen Ruhmes in den 1930er Jahren heute fast vergessen ist.