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Beitrag vom 08.03.2016
Irma Nelles - Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein
Yvonne de Andrés
Die langjährige Büroleiterin des Spiegel-Herausgebers erstellt ein sehr persönliches Porträt ihres Chefs. Weder beschönigt, noch skandalisiert sie. Die einfühlsame Beschreibung stellt einen heiteren, scharfzüngigen, ...
... in sich gekehrten, scheuen Mann vor. Nelles schildert ihre unromantische Beziehung, die kein alltägliches Arbeitsverhältnis war.
"Im Frühjahr 1973 stieß ich im Bonner "General-Anzeiger" auf diese Annonce: ´Die Bonner Redaktionsvertretung des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" sucht junge Nachwuchssekretärin.´" Irma Nelles war damals 26 Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie bewirbt sich in der Dahlmannstraße 20, mitten im damaligen Regierungsviertel, und bekommt den Job. "Zu Hause ging das erwartete Theater los. Dieses Mal enteignete ihn, soweit ich meinen Mann verstehen konnte, Alice Schwarzer. Die Journalistin forderte eine umfangreiche Gleichberechtigung der Frau ein und galt als kämpferische Sperrspitze eines vor allem in Zeitungen und Zeitschriften ausgetragenen Streits um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Frauen." Die Ehe geht auseinander, und Irma Nelles gelangt immer mehr in das Innenleben der Redaktion.
Sehr plastisch beschreibt sie, wie die männliche Tafelrunde der Redakteure arbeitete "Bei den zu verfassenden Geschichten handelte es sich immer um einen Aufmacher oder gar um eine Titelgeschichte, in jedem Fall aber um eine "bahnbrechende Enthülle". Ihre, wie sie behaupteten, unheimlich guten Infos hatten sie in kleine Schreibblöcke geschrieben. Wenn einer von ihnen daraus besonders laut und deutlich vorlas, signalisierte er, dass es jetzt um die Ergebnisse einer exklusiven Recherche ging. Meistens signalisierten dies zwei oder drei Redakteure gleichzeitig."
Irma Nelles zeichnet von Rudolf Augstein ein inniges privates Psychogramm eines exzentrischen, lebenslustigen, aber auch labilen Zeitschriftenmachers. Mit großer Entourage ist er oft unterwegs, es gibt aber auch stille Momente mit einer Bierflasche in ihrer Küche. Sie beschreibt den Schwerenöter, den einsamen Mann, der schlecht allein sein kann. Nelles entzieht sich seinen intimen Annäherungen. "Soweit ich es überhaupt beurteilen könne, hätten es Frauen mit ihm nicht gerade leicht [...] Er tausche anscheinend lieber seine Wohnungen, seine Angestellten, ja nicht zuletzt auch seine Frauen aus, um sich einem mühevollen, normalen Leben nicht aussetzen zu müssen." Das Thema Nationalsozialismus und seine dreijährige Teilnahme als Soldat an der Ostfront wird von Augstein nur beiläufig angesprochen, doch nicht von Irma Nelles aufgegriffen. "Bei meinem Rückzug aus Russland habe er ja einschlägige Erfahrungen gemacht." Die Biografin lässt dies unkommentiert stehen. Sie scheint sich zu scheuen und zu fürchten vor den wahren Geschichten und was dadurch zum Vorschein kommen könnten oder bangt um ihr Verhältnis zum Herausgeber. Nelles beschreibt, wie sich Augstein am Ende immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückzog, viel telefonierte und wie die Verleihung des Börne-Preises am 11. Mai 2001 die letzte große öffentliche Anerkennung für seine Arbeit als Herausgeber war. Bis zuletzt ist Irma Nelles an seiner Seite.
Zur Autorin: Irma Nelles, geboren 1946 auf der nordfriesischen Insel Nordstrand. Ihr Vater war Pfarrer und eingefleischter Spiegel-Leser. 1973 startet sie in der Bonner Spiegel-Redaktion. Zunächst viele Jahre als Assistentin, später wurde Nelles Büroleiterin von Rudolf Augstein. Sie lebt in der Eifel und in Griechenland.
AVIVA-Tipp: "Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein" beschreibt sehr detailliert die Faszination der jungen Frau Irma Nelles im Bannkreis eines mächtigen Journalisten und reichen Mannes. Die Geschichte der Bundesrepublik und speziell der 70er Jahre bildet den externen Rahmen des Buches. Das Verhältnis von Irma Nelles zu Rudolf Augstein wird im Wesentlichen von ihm geprägt. Er ist ein politisch Getriebener, von seiner Liebe zu Frauen und der Suche nach Nähe und persönlichen Unterwerfungen. Irma Nelles unterwirft sich nicht, sie wird nicht seine Frau. Sie findet den Grad an Selbständigkeit und Nähe, um Rudolf Augstein 30 Jahre eine vertraute und zuverlässige Büroleiterin zu sein. Ein interessantes Porträt des Spiegel-Herausgebers.
Irma Nelles
Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein
Aufbau Verlag, erschienen 04.02.2016
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 320 Seiten
16,99 Euro [D]
ISBN: 978-3-351-03630-0
www.aufbau-verlag.de