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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 16.12.2015


Lotta Lundberg - Zur Stunde Null
Yvonne de Andrés

Die "Stunde Null", der "absolute Nullpunkt", der "tiefste persönliche Zusammenbruch", das "Maß der Zerstörung" ist erreicht, und "nur ein Neuanfang kann die Wende bringen". Hedwig, Isa ...




... und Ingrid, drei ganz unterschiedliche Frauen, stehen in den Jahren 1945, 1983 und 2004 jeweils vor ihrem individuellen Scherbenhaufen.

Lotta Lundberg hat ihren Roman der bekannten schwedischen-israelischen Journalistin Cordelia Edvardson gewidmet, der Tochter der gläubigen christlichen Autorin Elisabeth Langgässer.

Im Sommer 1945 befindet sich Hedwig Lohmann, die Figur wurde an die Person von Elisabeth Langgässer angelehnt, in der ausgebombten, zertrümmerten Stadt Berlin. Sie ist physisch kaputt, moralisch verzweifelt und ein Wrack, wie die sie umgebende schemenhaften Menschen und die Trümmerlandschaft. Sie liebte einen verheirateten jüdischen Mann. Ihre geliebte uneheliche Tochter Cordelia wurde nach den Nürnberger Rassegesetzen als "Volljüdin" eingestuft. Hedwigs innigster Wunsch war es, als freie Schriftstellerin zu leben und sich komplett dem Schreiben zu widmen. "Gott zuliebe musste sie das Schreiben ernst nehmen, und das konnte sie nicht, wenn neben ihr das Mädchen schrie. Denn es schrie. Und schrie. [...] Es gab wohl auf der ganzen Welt keine einzige Schriftstellerin, die mit einem Nebelhorn neben ihrem Schreibtisch schreiben konnte." Lohmann hatte nach mehreren Versuchen unternommen, Cordelia bei sich zu behalten, dies klappte nicht. Als der externe Druck anstieg, gab sie sie zur Adoption frei. Hedwig Lohmann hat ihre Tochter Cordelia nicht vor den Nazis gerettet.

Sehr detailliert beschreibt Lotta Lundberg die Konflikte, Egoismen und Exkulpationen der jungen Mutter und Frau, die pragmatisch versucht, sich der neuen Situation anzupassen und dabei nur das eigene Überleben und Schreiben im Blick hat. "Wenn du den Stern nicht getragen hättest, hätten wir ihn an unsere Haustür heften müssen. Du warst so mutig! Ich dachte, du hättest verstanden. So war es am besten für uns alle." Die Adoption rettet Cordelia nicht. Der Weg der bald 14jährigen geht erst durch die Hölle von Theresienstadt, später nach Auschwitz und vor die Augen des berüchtigten Dr. Josef Mengele. 1945 erlebte sie die Befreiung und wird mit einem "Weißen Bus" nach Schweden gebracht. Cordelia Edvardson hat mit "Gebranntes Kind sucht das Feuer" (1986) ein eindringliches literarisches Zeugnis und ein bewegendes Dokument über Trauerarbeit und Versöhnung über diese Zeit geschrieben. Diese Schuld plagt Hedwig Lohmann, dass sie ihre Freiheit und Selbstbestimmung höher gestellt hat und nicht alles zur Rettung ihrer Tochter unternommen hat, und sie fragt sich: "Kann man Schuld auf sich laden für etwas, das man nicht verstanden hat?"

Dieser Geschichte werden zwei weitere gegenübergestellt. Die erste Geschichte spiegelt sich in der zweiten Geschichte, diese findet 1983 in Uppsala auf der Couch einer Jugendpsychologin statt. Isa ist ein wütendes junges Mädchen, dessen Mutter fortgezogen ist. Sie beginnt gerade ihre Therapie, die sie ins Leben wieder zurückbringen soll. Die dritte Geschichte ist im Jahr 2004 angesiedelt. Es ist die von Ingrid, Psychotherapeutin und Ehefrau eines sterbenskranken Pfarrers in Blidholmen, der sich in eine andere Frau verliebt hat. Ingrid fragt sich, ob sie ihren Ehemann verlassen soll. Sie nimmt sich eine Auszeit. Ihre Freundin Gunilla fordert sie auf, mindestens einen Sommer fortzubleiben und darüber nachzudenken, wieder zu sich selbst zu finden und ihre Abhängigkeit gegenüber ihrem Mann zu überwinden.

Isa sinniert am Ende des Buches darüber nach: "Was kann ein Mensch eigentlich tun? Ein Mensch kann so viel. Ein Mensch kann neue Menschen erschaffen, die Welt zusammenfügen und in Therapie gehen, kann andere verraten, forschen, vergeben." Dann besteigt Isa ihr Fahrrad und radelt neuen Horizonten entgegen.

AVIVA-Tipp: "Zur Stunde Null" beschreibt die Suche nach Identität, Würde und Normalität seiner Protagonistinnen. Die Töchter werden verlassen, weil die Mütter keinen anderen Ausweg finden. Ein Entwicklungsroman, in dem die Erfahrungen der drei Protagonistinnen diesen Antworten auf ihre existenziellen Fragen liefern. Ein besonderes Buch.

Zur Autorin: Lotta Lundberg geboren 1961 in Uppsala, Schweden, lebt seit 2004 in Berlin. Sie studierte Politikwissenschaften, arbeitet für die Feuilletons verschiedener schwedischer Tageszeitungen und war Vorsitzende des Womens Crises Centre in Uppsala. "Zur Stunde Null" ist ihr sechster Roman und liegt erstmals auf Deutsch vor. Sie hat für diesen Roman 2015 den Literaturpreis des Schwedischen Radios erhalten.
Mehr Infos unter: lottalundberg.com

Zur Übersetzerin: Nina Hoyer, geboren 1974, studierte Nordistik in Kiel und Buchwissenschaften in München. Seit 2009 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Schwedischen, Dänischen und Norwegischen. Sie lebt auf der Insel Sylt und in Schweden.

Lotta Lundberg
Zur Stunde Null

Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer
Hoffmann und Campe Verlag, erschienen 2015
Gebunden, 384 Seiten
ISBN 978-3-455-40521-7
20 Euro
www.hoffmann-und-campe.de


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Beitrag vom 16.12.2015

Yvonne de Andrés