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Beitrag vom 11.08.2015
Ayelet Gundar-Goshen - Löwen wecken
Sharon Adler
Nach "Eine Nacht, Markowitz" (Kein & Aber, 2013) legt die israelische Autorin und Psychologin mit ihrem zweiten Roman nun das Psychogramm eines Mannes vor, dessen Leben eine radikale Wende...
... erfährt und trifft damit den Nerv der Leserin bis ins Innerste, denn das kafkaeske der nun folgenden Handlung ist es, was jeder und jedem genau so passieren könnte.
Etan Grien ist Neurochirurg, einer "von der guten Sorte", einer der daran glaubt, dass Korruption geahndet werden sollte und sich deshalb fernab jeglicher Karriereaussichten in einem renommierten Krankenhaus in der Metropole des Landes mitten in der staubigen Wüste in Beer Scheva wiederfindet. Seine Frau Liat ist Polizistin, die Kinder sind noch klein und sehr süß.
Sein eigenes kleines Leben wird in nur einer Nacht zu dem eines Fremden, das die Autorin von nun an minutiös seziert, indem sie "nach dem Menschen hinter dem Menschen" forscht und die große Frage nach Verantwortung und Integrität stellt.
Etan ist in seinem Jeep nach einem 19-Stunden-Klinik-Tag im Soroka-Krankenhaus auf dem Weg nach Hause, völlig übermüdet, mit den Gedanken bei dem schönsten Mond, den er je gesehen hat, laut Janis Joplin mitsingend, als es passiert: Auf einmal steht dieser Mann vor seinem Auto, taucht auf der Wüstenstraße wie aus dem Nichts auf. Etan erkennt, dass der Mann sterben wird und trifft die Entscheidung, den Unfall nicht zu melden und sein Leben so weiterzuleben, als wäre nichts passiert. Das hat Folgen. Denn am nächsten Morgen steht eine fremde Frau vor seiner Tür – mit seiner Brieftasche, die er am Unfallort verloren hatte.
Diese Frau ist Sirkit, eine wunderschöne und stolze Eritreerin, und der Tote war ihr Mann, ein Illegaler wie sie selbst. Statt Geld für ihr Schweigen zu verlangen, zwingt sie Etan dazu in einer verlassenen Werkstatt ein provisorisches Krankenhaus für die vielen Eritreer, die illegal in Israel sind, einzurichten. Etan akzeptiert gezwungenermaßen, und behandelt nun Nacht für Nacht alle nur erdenklichen Krankheiten. Er wird mit Menschen konfrontiert, deren Existenz er zum ersten Mal überhaupt bewusst wahrnimmt. Gequält von Schuldgefühlen, Ekel, Verbitterung, und Hassgefühlen akzeptiert er dennoch seine "Bestrafung", die sein Leben für immer verändern wird. Etan korrumpiert nun sich selbst und seine Gedanken kreisen ihn ein, messerscharf und in einer wunderbar schnörkellosen Sprache formuliert durch Ayelet Gundar-Goshen, die seine Handlungen und Verstrickungen wie durch ein Vexierglas betrachtet. Doch sie beschreibt nicht nur das Leben eines Mannes, das unvermittelt aus den Fugen gerät. Die Geschichte kreist vielmehr um Gesellschaftskritik, wie Korruption und die Situation der illegalen Flüchtlinge aus Eritrea, Bürger_innen keiner Klasse, deren Lage aussichtslos scheint.
Der Titel "Löwen wecken" bezieht sich auf ein Gedicht von Yona Wallach:
"Wir waren wie verrückt / Löwen schrien in uns die ganze Nacht". Dazu Ayelet Gundar-Goshen: "An einer ganz bestimmten Stelle im Roman, so denke ich, sind die Löwen tatsächlich erwacht. Mir gefällt die Vorstellung eines inneren Löwen, eines versteckten Raubtiers in jedem von uns, sogar im Arzt mit seinem weißen Kittel."
Auch die Autorin selbst hinterfragt ihr Handeln, beobachtet, wie oft sie bereits in einem Restaurant gesessen hat, "beim Essen, beim Küssen, beim Diskutieren, während ein illegaler Einwanderer meinen Tisch abwischte, von mir komplett unbeachtet. Ich wollte herausfinden, was passiert, wenn ein solcher unbeachteter Mensch plötzlich etwas in der Hand hält, das das Gleichgewicht zwischen uns verändert."
AVIVA-Tipp: " Löwen wecken" ist ein großer Roman über die Zerbrechlichkeit der Menschen und über verdrängte Schuld. Ebenso radikal wie subtil angelegt, verdankt diese Geschichte seine Sogwirkung vor allem der brillanten Erzählkunst von Ayelet Gundar-Goshen.
Zur Autorin: Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, "Eine Nacht, Markowitz" (Kein & Aber, 2013), der den renommierten Sapir-Preis für das beste Debüt Israels erhielt, wird derzeit von der BBC unter der Regie der Oscar- Gewinnerin Susanne Bier verfilmt. Ayelet Gundar-Goshen lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv.
Mehr zu Ayelet Gundar-Goshen im Interview unter: keinundaber.ch/de/interview
Ayelet Gundar-Goshen
Löwen wecken
Original: Lehar´ir Arajot
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, erschienen Februar 2015
Hardcover, 432 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5714-2
€ 22,90
www.keinundaber.ch