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Beitrag vom 25.05.2015
Barbara Honigmann - Chronik meiner Straße
Magdalena Herzog
Nach ihrem Roman "Bilder von A." gibt es nun endlich wieder ein Buch von Barbara Honigmann! Angesiedelt sind ihre wunderbar poetischen Alltagsbeschreibungen diesmal im Straßburg der Gegenwart.
Honigmann als Zentrum des Texts
Diejenigen Lesenden, die in den autofiktionalen Texten Honigmanns stets Referenzen auf das persönliche Leben der Autorin suchen, dürfen sich dieser Suche vollkommen hingeben: Hongimann stellt sich ins Zentrum ihrer Beschreibungen und damit verfließen die Grenzen zwischen dem "Biographischen, Inszenierten, Umgedichteten und Zerdichteten", wie es die Autorin formulierte.
Worum geht es?
Die Chronik meiner Straße beschäftigt sich mit den Geschehnissen zwischen denjenigen, die genau in der Straße wohnen, in die Familie Honigmann nach ihrer Übersiedlung 1984 aus der DDR gezogen ist. Die Straße ist trist, "die Gegend öde", das neue Domizil hässlich. Während die Familie plant, dort nur kurz anzukommen und bald in eine bessere Gegend weiterzuziehen, wohnen die Honigmanns Jahrzehnte später noch dort. Geschildert werden die Entstehung von Bekanntschaften, die Herauskritallisierung von Freundschaften und deren Ende, vom Umgang mit Lärm, Schmutz und jüdischen Feiertagen in der Rue El.
Multikulturelle Gesellschaft als Thema bei Honigmann
Auslösend für diesen Bericht scheint im Gegegensatz zu Honigmanns Romanen nicht die Komplexitat zwischenmenschlicher Begenungen unter politischen Umständen zu sein, sondern vielmehr eine Faszination für den multikulturellen Charakter ihres neuen Lebensumfeldes. Gleich im ersten Kapitel ließt frau/man, dass hier "viele Araber, Türken und Kurden, dazu Schwarze in allen Abstufungen von Schwarz" leben, "die oft in bunten langen Kleider und hoch aufstehenden Kopfbinden daherkommen". Ebenso wohnen in der Rue El "Frauen in Saris, Asiaten, die vielleicht Chinesen oder Japaner oder Koreaner sind", aber das kann die Protagonistin "nicht erkennen".
Diese Beschreibung liest sich flüssig, sie ist freundlich und strahlt Überraschung und Neugier aus. Sie scheint den Blick einer Neuankommenden aus der DDR von 1984 wiederzugeben, durch die die Protagonistin wahrlich nicht an eine heterogene und diverse Gesellschaft gewöhnt sein konnte. Als diejenige, die nun seit 30 Jahren in diesem Stadtteil lebt, löst diese Perspektive auf Heterogenität Unwohlsein aus, denn dann gewinnen diese Beschreibungen etwas Exotisierendes und Weltfremdes. Sie lassen annehmen, dass diese Diversität etwas gänzlich neues sei, als würden nicht seit Jahrzehnten sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland Debatten über Vielfalt und den Blick der mehrheitlich weißen, mitteleuropäischen Bevölkerung darauf thematisiert werden. Literatur kann sich von diesen Prozessen fernhalten. Viele Lesende suchen aber einen Zusammenhang. Es gelingt Honigmann leider nicht, ihrer "verblüffend einfachen Poesie", wie es Marcel Reich-Ranicki wunderbar zutreffend formulierte, eine zeitgemäße Haltung in Bezug auf eine kulturell komplexe Gesellschaft einzuhauchen.
Die Bekanntschaften im Viertel
Spricht Honigmann über vertraute Themen – die Shoa, die DDR, das Zurückommen nach Deutschland und immer wieder die Begegnungen mit anderen Menschen, gewinnt die Sprache der Autorin wieder an Komplexität, die sie vorher etwas verloren zu haben schien.
Die Bekanntschaften, die in der Rue El geschlossen werden, speisen sich aus einer beneidenswert liebevollen Haltung heraus, selbst, wenn die Protagonisten ihr Gegenüber nicht versteht. So beispielsweise geschieht es mit Nadja, die sie jeden Donnerstag zum gemeinsamen Malen trifft. Nadja fühlt sich durch die regelmäßigen Treffen "eingezwängt". Für Honigmann ist dieses Gefühl etwas nicht nachvollziehbares, denn "wenn wir warten, bis uns die Muse küßt, da können wir lange warten; nur das, war wir oft und ausgiebig machen, machen wir es gut" entgegnete sie Nadja. Als diese bei ihrer Haltung bleibt, findet die Protagonistin das "merkwürdig", und schließt mit einer selbstreflexiven Bemerkung: "wahrscheinlich bin ich es, die merkwürdig ist, in meinem stumpfsinnigen Bedürfnis nach Regelmäßigkeit und Dauer." Hier ist die feine Ironie zu erhaschen, die für Honigmann so charateristisch ist, und die sich in diesem Fall als Kommentar zu einem durchaus verbreiteten Umstand innerhalb einer bestimmten Generation lesen lässt, bei der Verbindlichkeit äußert unschöne Gefühle hervorruft.
Aus der Assimilation ins religiös-jüdische Leben
Diese kleinen Szenen geben einen Eindruck von dem Sprung, den Honigmann von Ost-Berlin nach Straßburg gewagt hat: einem "dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein".
Aus einem Kontext, in dem religiös-jüdisches Leben marginalisiert wurde, trifft die Protagonistin auf eine Situation, in der dieses Leben selbstverständlicher Teil des Alltags sein darf. Diese Selbstverständlichkeit verliert erst ihre Leichtigkeit, als Peter Honigmann nach drei Jahrzehnten dortigem Wohnen beschließt, eine Sukkah im Hof zu errichten. Selbst in Frankreich verursacht dies bürokratische und auch ein paar nachbarschaftliche Probleme und spannungsgeladene Momente, die auch hier wieder vollgesogen sind mit Ironie und Witz. Natürlich feiern die Honigmanns am Ende mit ihren FreundInnen ein schönes Sukkot.
Die in dem Bericht geschlossenen Bekanntschaften sind berührend durch die Zugewandtheit, mit der die Protagonistin interagiert und wie die Autorin das Alltägliche sprachlich erneut wunderschön poetisiert. Honigmann hinterlässt uns LeserInnen in einer positiven Stimmung, die sich vor allem aus ihrer Offenheit gegenüber den zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Entwicklungen speist. Es ist letztendlich das, was alle Romane und Erzählungen von Honigmann auszeichnet und so wertvoll machen.
AVIVA-Tipp: Die Chronik meiner Straße ist ein poetisch formulierter Bericht über einen Kiez in Straßburg mit dem Blick einer Neuankommenden in einer heterogenen Kultur, die das alltägliche Leben mit Aufmerksamkeit und bemerkenswerter Zugewandtheit und feiner Ironie beschreibt.
Zur Autorin: Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit der Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis und dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich. Bei Hanser erschienen u.a. "Ein Kapitel aus meinem Leben" (2004), "Das Gesicht wiederfinden" (2006), "Das überirdische Licht" (Rückkehr nach New York, 2008) und "Bilder von A." (2011). (Verlagsinformation)
Barbara Honigmann
Die Chronik meiner Straße
Carl Hanser Verlag, erschienen 2015
152 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-446-24762-8
16, 90 Euro
www.hanser-literaturverlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Barbara Honigmann - Bilder von A.
Beiträge von Barbara Honigmann in:
Olga Mannheimer und Ellen Presser (Hrsg.): "Nur wenn ich lache - Neue jüdische Prosa". (2002)
"Habitus": A Diaspora Journal. Berlin-Ausgabe. (2011)
"Jüdischer Almanach - Frauen". (2006)
Weiterlesen:
"Irgendwo auf der Welt muss es Menschen geben, die mich verstehen" Interview mit Barbara Honigmann, Stefan Mesch in ZEIT-ONLINE vom 27.10.2011
Reich-Ranicki, Marcel. Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Erw. Neausg. DTV: München, 1993
Barbara Honigmann: Roman von einem Kinde. 2. Aufl., DTV: München, 2006