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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 25.05.2015


Verena Boos – Blutorangen
Helga Egetenmeier

Erst in der räumlichen Distanz zu ihren Eltern erkennt die Studentin Maite deren Schweigen zur Familienvergangenheit. Die Autorin führt sie zwischen der faschistischen Franco-Diktatur und...




... Nazi-Deutschland langsam an die Orte und Erfahrungen, deren Nachwirkungen durch die nächsten Generationen - unwissend, ignorierend oder abwehrend - weitergetragen werden.

Die promovierte Historikerin Verena Boos öffnet drei Zeitebenen anhand derer sie die beiden Familiengeschichten ihrer Protagonistin verbindet. Ein Jahr nach dem deutschen Mauerfall zieht Maite von Valencia nach München und fängt dort ein neues Leben an. Als sie im Jahr 2004 erstmals wieder nach Spanien fährt, um dem Großvater ihres Mannes bei der Öffnung eines Massengrabes beizustehen, hat sie auch einige der Geheimnisse ihrer eigenen Familie entdeckt. Diese nehmen die dritte Zeitachse von 1939 bis 1942 auf, als ihr Vater sich dem Diktator Franco anschließt und Großvater Antonio als Gefangener auf der anderen Seite steht.

Stellvertretend für die Gegenwart nimmt die Autorin das Liebespaar Maite und Carlos, als unwissende Kinder und Enkel der Kriegsgeneration, in ihren Fokus. Wie auch Almudena Grandes, die sich in ihren Romanen mit der jüngeren spanischen Geschichte auseinandersetzt und Melitta Breznik, die in ihrer Mutter-Tochter-Erzählung "Der Sommer hat lange auf sich warten lassen" die Sprachlosigkeit als Folge von Kriegserfahrungen aufhebt, geht es Verena Boos um das Ende des Schweigens.

Die psychische Verfasstheit der sich gegenüber stehenden zwei Vaterfiguren, der eine freiwillig, der andere gezwungenermaßen durch den Krieg gezeichnet, sind detailreich herausgearbeitet. Ihre einschneidenden Erlebnisse, der eine flieht aus dem Zug zum KZ Mauthausen, der andere beteiligt sich mit der franquistischen Blauen Division an Hitlers Russlandfeldzug, erhält durch deren Ich-Perspektive eine persönliche Eindringlichkeit. Die nach Antworten suchende Maite bleibt den Roman hindurch diejenige, die diese Männer nach ihren moralischen Werten hinterfragt und ihre eigene Blindheit gegenüber politischen Ereignisse darin mit einschließt.

Die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Franco-Diktatur ist in Spanien weiterhin umstritten. Deshalb sind es meist ehrenamtlich arbeitende Verbände, die sich zusammen mit den Angehörigen um die Auffindung und Exhuminierung der Ermordeten aus den Massengräbern kümmern. Verena Boos nahm im November 2011 an solch einer Grabung teil "und lernte nicht nur, wie die archäologische Arbeit funktioniert, sondern verstand auch, welche sozialen Räume sich in diesem Kontext auftun", wie sie im Nachwort schreibt.

Kühl und distanziert wirken streckenweise die kurz formulierten Sätze, die den Lesefluss etwas bremsen. Jedoch erzeugt die Autorin dadurch eine literarische Atmosphäre, die das Herantasten ihrer Protagonistin an die Familienvergangenheit in Form und Inhalt verbindet. Mit immer weiter greifenden Satzkonstruktionen folgt die Sprache dem zunehmenden Wissen der Beteiligten und bleibt gleichzeitig stringent und ihren Figuren zugewandt.

AVIVA-Tipp: Über eine allmählich steigende Dramaturgie verwebt Verena Boos auf literarischer wie auf inhaltlicher Ebene das gegenwärtige Leben ihrer Figuren durch die geteilte Vergangenheit. Durch die Erkenntnis der Protagonistin, ihre eigene Geschichte und ihre sich dadurch eröffnenden Wahlmöglichkeiten zu verstehen, bringt die Autorin Kriegstraumata und ihre Nachwirkungen auf die nächsten Generationen zusammen und hat so mit ihrem Erstlingswerk zugleich einen eindringlichen wie auch äußerst lesenswerten Roman geschaffen.

Zur Autorin: Verena Boos, 1977 in Rottweil geboren, studierte Anglistik und Soziologie, promovierte in Zeitgeschichte und lebt in Frankfurt. Neben mehrjährigen Aufenthalten in Italien, Großbritannien und Spanien, arbeitete sie als Journalistin, Referentin und seit 2010 als freie Autorin. Sie nahm am Literaturkurs Klagenfurt und der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil, las beim Open Mike und wurde für die Bayerische Akademie des Schreibens im Literaturhaus ausgewählt.
Mehr Infos unter: www.blutorangen.com

Verena Boos
Blutorangen

Aufbau Verlag, erschienen im März 2015
Hardcover, gebunden mit Lesebändchen, 411 Seiten
ISBN-13:978-3351035945
19,95 Euro
www.aufbau-verlag.de

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Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Almudena Grandes - Inés und die Freude

Mercè Rodoreda - Der Garten über dem Meer

Weitere Infos unter:

www.memoriahistorica.org - Verein zur Wiedererlangung der Historischen Erinnerung

www.mauthausen-memorial.at - KZ-Gedenkstätte Mauthausen

www.musee.delaresistance.free.fr - Musée de la Résistance et de la Déportation, Angoulême, Frankreich





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Beitrag vom 25.05.2015

Helga Egetenmeier