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Beitrag vom 20.05.2015
Anke Stelling - Bodentiefe Fenster
Philippa Schindler
Kein wahres Leben im Falschen: In süffisant-ironischem Ton nimmt Protagonistin Sandra die durch Heuchelei zersetzten Ideale eines linksliberalen Gemeinschaftshauses im Prenzlauer Berg auseinander.
Bodentief sind die Fenster im selbstverwalteten Gemeinschaftshaus. Und dünn die Wände. Fast genauso dünn wie Sandras Nervenkostüm in den letzten Wochen. Die Protagonistin – sie ist vierzig, freiberufliche Journalistin und hat zwei Kinder – hat ein Problem. Seit einiger Zeit reift in ihr eine Erkenntnis heran und droht nun jederzeit überzukochen. Sandra hält es hier einfach nicht mehr aus.
Nicht in diesem Haus, das unter den hohen ökologischen Standards und Plena-Ordnungen ebenso ätzt, wie unter den Idealen der 68er Generation. Nicht mit diesen Menschen. Denen in ihrer spießbürgerlichen Genauigkeit und ihrem permanenten Zwang zur Selbstoptimierung kein Gras grün genug ist. Nicht einmal das der Nachbar_innen. Und schließlich hält es Sandra nicht mehr mit den Müttern aus, die ihre Kinder zum Projekt erheben, oder besser: ihre eigene Unsicherheit mit dem genauen Befolgen von pädagogischen Ratgebern kaschieren. Anstatt einfach mal loszuheilen.
"My Mother / My Self"
Protagonistin Sandra tut dies häufig. Wenn alle beruhigenden Mantren nichts mehr bringen, wenn sich die Enttäuschung über die verratenen Kinderladen-Ideale ihrer Mutter zu einer Depression auswachsen. Wenn im Plenum darüber diskutiert wird, dass ein Baumhaus niemals spontan, sondern nur mit Vorankündigung im Treppenhaus gebaut werden darf. Wenn eine Mutter ihr Kind im Garten des Gemeinschaftshauses wutentbrannt mit dem Strahl einer Ketchup-Flasche beschießt und dann schreit: "Jetzt bist du tot."
Wider das System
Doch die Zerbrechlichkeit, die Sandra zu Beginn des Romans ausstrahlt, täuscht. Immerhin ist sie in Anke Stellings drittem Roman, "Bodentiefe Fenster", die trotzige Widersacherin, die Störenfrida im von Heuchelei und Neid zersetzten System der Hausgemeinschaft. Mit zur Pedanterie neigenden Beobachtungsschärfe beschreibt sie ein Milieu, das Soziolog_innen und Marktforscher_innen bestens unter dem Begriff Lifestyle of Health and Sustainability bekannt sein dürfte.
Und das ist – zumindest in Anke Stellings Roman – oft genug zum Schreien absurd. Zum Beispiel wenn bei Bionade und Zimtwecken darüber philosophiert wird, dass Neurodermitis bei Kindern ein eindeutiges Zeichen für ihr verstärktes Bedürfnis nach Grenzen sei ("Haut, Grenze, du weißt schon"). Oder im Haus endlos lange darüber debattiert wird, wie Sahne bei Tiefdruckwetter steif zu schlagen ist. In Anke Stellings Roman sind es gerade diese Momente, die "Bodentiefe Fenster" in all seiner Tristesse so amüsant macht. Und wer weiß, vielleicht erwischen wir uns hin und wieder sogar bei einem Schmunzeln, das mehr ist als nur süffisantes Grinsen.
AVIVA-Tipp: Ein bisschen Berliner Schnauze, eine schlecht gelaunte Störenfrida und ein paar enttäuschte Hoffnungen: In ihrem dritten Roman nimmt die Berliner Autorin Anke Stelling eine linksliberale Hausgemeinschaft im Prenzlauer Berg aufs Korn. Schnell wird klar: Die Kritik sitzt, auch wenn das Bild manchmal etwas überzeichnet ist.
Zur Autorin: Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2004 wurde ihr gemeinsam mit Robby Dannenberg verfasster Roman "Gisela" und die Erzählung "Glückliche Fügung" verfilmt. Weitere Veröffentlichungen: "Nimm mich mit" (2002, gemeinsam mit Robby Dannenberg), "Glückliche Fügung" (2004) und "Horchen" (2010).
(Quelle: Verbrecher Verlag)
Website der Autorin: www.ankestelling.de
Anke Stelling
Bodentiefe Fenster
Verbrecher Verlag, erschienen im März 2015
Hardcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-95732-081-0
19,00 Euro
www.verbrecherverlag.de
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