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Beitrag vom 19.05.2015
Ulrike Almut Sandig - Buch gegen das Verschwinden
Claire Horst
Ein Reisebericht aus dem Jahr 2117, eine Erzählung über die fortschreitende Lähmung der Hauptfigur, der Abschied eines jungen Journalisten von der Person, die andere in ihm sehen – auf den ...
... ersten Blick scheinen die Texte in Sandigs Band kaum etwas miteinander zu tun zu haben.
So verschieden die Handlungen der einzelnen Erzählungen aber sind, so dicht sind sie miteinander verbunden.
An erster Stelle sorgt dafür der Rahmen, den das vorangestellte Motto und der Schlusstext bilden. Beide spielen im fernen Jahr 2127: "am elften Dezember 2127 zieht die Venus wieder als blinder Fleck vor der Sonne vorüber, so haben es die Forscher berechnet." Das steht auf der ersten Seite, und erst auf der letzte Seite lösen sich die Fragen – wenn überhaupt.
Denn vieles bleibt rätselhaft. Das seltsam verschobene Gefühl, das sich schon auf den ersten Seiten einstellt, wird bleiben. Manchmal sind es die ErzählerInnen, deren Verwirrung sich überträgt, manchmal ist es der Plot, der merkwürdige Lücken und Auslassungen aufweist – natürlich mit Kalkül. Sandigs Geschichten sind präzise und handwerklich perfekt gebaut, und anfänglich macht es genau diese Perfektion schwer, sich ganz auf sie einzulassen. Etwas distanziert steht die Leserin ihnen zunächst gegenüber, betrachtet, welche stilistischen Mittel Sandig sich dieses Mal einfallen lässt. Vielleicht liegt es auch an der auktorialen Erzählhaltung, die Sandig zunächst einnimmt – eine Identifikation mit den Figuren lässt sie nicht zu. Ganz im Gegenteil: Sie präsentiert sie als literarische Konstruktionen, als Exempel für ein Größeres. "Nehmen wir zum Beispiel dieses Wohnmobil auf der rechten Spur der Autobahn in Richtung Rostock." Dass ihre Geschichten Geschichten sind und folglich auch ganz anders aussehen könnten, darauf weist die Autorin mit solchen Kniffen immer wieder hin.
Sehr anders liest sich der Text "Geburtstagsgeschichte". Der Ich-Erzähler ist seiner körperlichen Veränderung, einer namenlosen Krankheit, ausgeliefert und sieht sein altes Leben verschwinden. Seine Versuche, sein Leben positiv zu sehen, sein Verlassenwerden niemandem übel zu nehmen, tun weh, so nachvollziehbar ist sein Bedürfnis, das Unerträgliche erträglicher zu machen. Glasklar und von einer durchdringenden Härte sind diese Texte.
Es ist erstaunlich, wie überzeugend die Autorin von Text zu Text die Perspektive wechseln kann. Mal lässt sie durch die Augen eines alten Mannes blicken, dessen Frau nach einem ganzen gemeinsam gelebten Leben gestorben ist, mal durch die einer Frau um die Dreißig, deren Begleiter auf einer Bergwanderung verschwindet. Gemeinsam mit den Figuren zweifelt die Leserin an ihrer Wahrnehmung, kann nie sicher sein über die zutreffende Deutung des Geschehenen. "Und je öfter Eva das Erlebte wiederholte und dabei in die Gesichter ihrer Freunde sah, desto ausgedachter kam ihr alles vor, die Wanderung wurde zu einer Erzählung, deren Inhalt sie von Mal zu Mal um eine unscheinbare Kleinigkeit variierte, und von der sie nach einer gewissen Anzahl von Wiederholungen gar nicht mehr sicher war, ob sie sich wirklich so zugetragen hatte oder nicht. Kam der Wind wirklich von vorn? Hatte Arno wirklich gerufen, sie solle weitergehen?"
Dass Sandig im letzten Teil des Buches eine fantastische Erklärung über die Herkunft der Geschichten anfügt, fügt dem Spiel mit den Illusionen noch eine weitere Ebene hinzu. Steckt hinter dem – realen – Gründer der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Peter Hinke, wirklich ein Fußballreporter, der zahllose Pseudonyme annimmt, um mehr Texte verkaufen zu können? Gibt es die rätoromanischen Gedichte wirklich, die die Autorin zu einem der Texte inspiriert haben sollen? "Sonntag" ist dieser letzte Text betitelt – doch als sonntägliches Ausruhen nach dem sechs Texte langen Schöpfungswerk ist er nicht zu verstehen. Dazu steckt zu viel Imagination darin. Erst in diesem Text dringt die humorvolle Stimme der Autorin durch. Der Band wird damit als "Konzeptalbum" erkennbar – als Text, der erst als Sammlung ganz funktioniert.
AVIVA-Tipp: Sandigs kluge Texte machen nachdenklich: Wie könnte die Realität noch aussehen, wenn wir sie aus einer anderen Perspektive betrachten könnten? Wie werden wir in dreißig Jahren das Jahr 2015 beurteilen? Was von mir ist schon verschwunden, wird noch verschwinden, und wohin verschwindet es?
Zur Autorin: Ulrike Almut Sandig, 1979 geboren, aufgewachsen bei Riesa, lebt in Leipzig und Berlin. Bisher erschienen drei Gedichtbände, Hörbücher und Hörspiele sowie ihre erste Prosaveröffentlichung Flamingos (2010). Ihre Gedichte wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Leonce-und-Lena-Preis 2009. Für Flamingos erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Droste-Förderpreis der Stadt Meersburg (2012). Zuletzt wurde Ulrike Almut Sandig 2014 mit dem Arbeitsstipendium des Berliner Senats ausgezeichnet. (Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: www.ulrike-almut-sandig.de
Ulrike Almut Sandig
Buch gegen das Verschwinden. Geschichten
Schöffling & Co.
208 Seiten. Leinen.
18,95 Euro
ISBN: 978-3-89561-188-9
www.schoeffling.de
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