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Beitrag vom 19.02.2015
Maija Tammi – Leftover / Removals
Teresa Lunz
Krankheiten sind allgegenwärtig und werden doch meist totgeschwiegen und kaschiert. Die mehrfach ausgezeichnete finnische Künstlerin fordert in kühnen Fotografien auf, hinzusehen.
Der im Kehrerverlag erschienene Band umfasst den fotografisch wiedergegebenen Querschnitt aus zwei Ausstellungen der finnischen Nachwuchskünstlerin Maija Tammi. Beide befassen sich mit den Themen Krankheit, dadurch bedingten Selbstverlust und Tod als menschliche Urängste. Auch optisch ist das Werk zweigeteilt: Im Einband finden die Leser_innen zwei separate Bücher, die einzeln durchblättert werden können und durch ihre jeweils individuelle Herangehensweise an die von der Künstlerin popularisierte, Tabus brechende "Sick Art" hervorstechen.
"Leftover" enthält 27 Abbildungen von Bestrahlungsmasken als greifbares Symbol von Krankheit und Zerbrechlichkeit. Sie wurden von der Künstlerin in Krankenhäusern aufgenommen und zuvor von Patient_innen benutzt, was jede mit einer eigenen, konkreten Geschichte behaftet. Alle Fotos zeigen Frauen, die Bestrahlungsmaske auf dem Gesicht, die Augen geschlossen und somit anonymisiert. Besonders Leserinnen sind also zur Identifikation aufgefordert, wobei die Künstlerin möglicherweise auch die eigene nagende Angst vor einer Krankheit bevorzugt mit und durch weibliche Modelle wiedergibt.
Begleitet sind die Aufnahmen von teils elliptischen Fragen und Aussagen, die das Thema der menschlichen Angst vor Kontrollverlust durch Krankheit vertiefen. Nach und nach ergibt sich eine Art Dialog zwischen einer (nicht näher benannten) Person und ihrer (ebenso unspezifischen) Krankheit. Implizit werden die Leser_innen eingeladen, die so belassenen Leerstellen durch ihre eigene – vielleicht noch unerfüllte – Geschichte zu schließen. Das erste Textstück ist die bange Frage:
"Somewhere in me, growing in secret?"
Umgehend bejaht sich diese Frage, indem die schleichend fortschreitende Erkrankung antwortet:
"My existence begins when you get to know me."
In anderen Fragmenten wird das Bestreben deutlich, verbissen am althergebrachten Alltag festzuhalten, gerade wo dieser ins Wanken gerät ("I am busy with other things") oder die stoische Negation dessen, was sich andeutet ("I cannot feel you"). Zuletzt stellt die Krankheit in Aussicht, dass sie die Person doch einholen wird, unabhängig von all deren Bemühungen, sich zu entziehen: "I´ll find you, don´t worry about that."
"Removals" zeigt sichtbare Überbleibsel von Krankheiten kurz nach einem chirurgischen Eingriff, "dekorativ" für die Kamera inszeniert: Zum Beispiel Venen, einen amputierten Fuß, Därme und Lungenflügel, fotografiert auf Essgeschirr, in Glasschüsseln oder Edelstahlgefäßen. Die fotografierten Organe sind keine Artefakte von Künstler_innenhand, sondern Material aus Operationssälen, das Maija Tammi vor Ort abfotografierte.
Es handelt sich um gestochen scharfe Farbaufnahmen, manche im halbseitigen Format, einige ganze Doppelseiten ausfüllend. Sie offenbaren selbst kleinste Rötungen, Schuppenschichten, alles bis hin zu den Hautporen. Der/die Betrachter_in erlebt schonungslose Konfrontation und lernt doch gleichzeitig, mit neu erwachender Gelassenheit hinzusehen. Begleitet werden die Bilder von zynisch-abgeklärten Kommentaren dreier Chirurgen, die den Schrecken der Leser_innen relativieren oder sogar explizit auf die ästhetischen Komponenten des fotografierten Objekts hinweisen. So zeigt die Serie, wie es möglich ist, Krankheiten als etwas Alltägliches aufzufassen, das thematisiert werden darf, ohne sich in Euphemismen zu verlieren. Die Dialoge nehmen gleichzeitig die Angst davor, "hinzusehen" und das vermeintlich Schreckliche zu analysieren.
"Okay, what is this? Is it a tongue or what the heck is it?" – "Very rough surface." – "Is there some cancer there? Is it…" – "It must be a tumor." – "Is it a tongue?" – "A thyroid? Could it be?"
Die Aufnahmen schockieren auf den ersten Blick und öffnen doch gleichzeitig die Wahrnehmung der Betrachter_innen. Die Auseinandersetzung mit sonst marginalisierten Gegenständen wird herausgefordert. Beide Bände werden nicht von Vor- oder Nachworten bzw. von weiteren Erläuterungen begleitet, die auch obsolet wären. Die von der Künstlerin gelieferten Bilder und Sätze reichen schon aus, um einen komplexen Interpretations- und Verstehensprozess in Gang zu setzen.
Zur Künstlerin: Maija Tammi, geboren 1985, ist Fotografin, Künstlerin und Mitglied des Kollektiv 11 für Dokumentarfotografie. Ihre Arbeiten wurden bereits in Finnland, Frankreich, Spanien und den USA ausgestellt und 2011 mit dem Fotofinlandia-Preis ausgezeichnet. Maija Tammi wurde 2010 "Photojournalist oft he Year". Sie lebt in Helsinki und schreibt zur Zeit an ihrer Doktorarbeit.
(Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Infos zur Künstlerin Maija Tammi unter: www.maijatammi.com
AVIVA-Tipp: Miriam Tammi will Tabus brechen, und das gelingt ihr fulminant. Ihr Werk verkörpert einen Anspruch, der fordert, die gängige Auffassung von Ästhetik zu erweitern. Und so, wie es Dialogausschnitte versammelt, löst es auch einen inneren Dialog in dem/der Betrachter_in aus. Tammi realisiert damit ein künstlerisches Projekt, das jede_n betrifft.
Maija Tammi
Leftover / Removals
Englisch.
Kehrerverlag, erschienen im September 2014
Gebunden, ohne Seitenangaben
ISBN 978-3-86828-522-2
68,00 Euro
www.kehrerverlag.com
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