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Beitrag vom 18.02.2015
René Freund - Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte
Angelina Boczek
Der österreichische Autor René Freund beschreibt anhand der Geschichte seines Vaters, der 1944 in Paris desertiert, wie sehr die traumatischen Kriegserlebnisse auch noch nachkommende Generationen...
... beeinflussen können.
Die "Familiengeschichte" "Mein Vater, der Deserteur" gehört zu jenen zahlreichen Aufarbeitungsbüchern der Kinder- und Enkelgeneration, die in den letzten Jahren vermehrt erschienen sind. Es sind die Söhne und Töchter, inzwischen auch die Enkel/Innen von NS-Tätern und -Opfern, die, oft lange nach dem Tod der Eltern oder der Großeltern, durch Nachforschungen oder per Zufall, auf teils unglaubliche Tatsachen und Zusammenhänge stoßen.
So auch René Freund: Das "Kriegstagebuch" seines Vaters Gerhard war eine "Entdeckung", die er in irgendeiner Schublade seines Elternhauses aufstöberte. Die im Buch kursiv gedruckten Eintragungen des damals 18jährigen Vaters aus dem August 1944 bilden den roten Faden für den Sohn, der die kurzen Schilderungen des Tagebuchs ausführlich kommentiert.
Was René Freund herausarbeiten möchte, ist auch eine Rehabilitierung seines Vaters: "Mein Vater erkannte als achtzehnjähriger Junge, dass er als deutscher Soldat in der französischen Hauptstadt nichts verloren und daher auch nichts zu suchen hatte. Diese Erkenntnis zeugt von Reife, die folgende Desertion von Konsequenz." Anhand weiterer, auch militärhistorischer Indizien, versucht René Freund zu zeigen, dass Fahnenflüchtige in jener Zeit nicht hoffen durften, am Leben zu bleiben, sowohl Résistance-Leute als auch alliierte Truppen hatten wenig Interesse daran, Soldaten der Wehrmacht zu schonen.
Unterbrochen werden die Tagebuch-Schilderungen der Ereignisse in Paris 1944 immer wieder durch Reiseberichte des Verfassers an den Orten des Geschehens in Frankreich im Jahre 2010. In diesen Texten erinnert René Freund an üble, auch weniger bekannte Gräuel des Krieges, zum Beispiel daran, dass amerikanische Einheiten zum Teil in rotem Atlantikwasser landeten, gefärbt vom Blut der zuvor von den Deutschen abgeschossenen Menschen.
"Fast alle Soldaten, egal welcher Nation, berichten, es habe sie in einen Schockzustand versetzt, das erste Mal einen Menschen getötet zu haben. Die meisten gewöhnten sich daran und litten dennoch ein Leben lang darunter".
Schließlich geht Freund ausführlicher ein auf das Schicksal gefasster Deserteure, die auch "Wehrkraftzersetzer" genannt wurden oder "Volksverräter" (noch jahrzehntelang nach 1945): "Während des Zweiten Weltkriegs kamen mehr als 15 000 Deserteure der Wehrmacht am Galgen, unter dem Fallbeil oder vor dem Erschießungskommando um." Dieses Schicksal blieb seinem Vater erspart, da er an die Amerikaner ausgeliefert wurde und "nur" in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet.
Die Frage, warum dem Verfasser "ein Buch über meine Familie, besonders über meinen Vater" wichtig war, beantwortet er so: "Um meine Familie kennenzulernen. Um mich selbst besser zu verstehen. Ich glaube, die Generationen der Kinder und Enkelkinder sind die ersten, denen bewusst ist, dass der Nationalsozialismus in Deutschland und in Österreich zu jeder Familiengeschichte gehört. Die Väter und Großväter waren im Krieg, die, die zurückkamen, waren entweder richtig psychisch krank. Oder sie wurden zu Schweigern. … Viele neigten zu plötzlichem Jähzorn, den sie sich selbst nicht erklären konnten. Ein Grund für diese Wut lag darin, dass die Kriegsgeneration gelernt hatte, keine Emotionen zu zeigen. Nicht klagen. Nicht weinen. Augen zu und durch!"
Und: "Wir ahnen, dass die Wunden der Vergangenheit nicht verheilen können, solange die Trauer niemals zugelassen wurde.
Deshalb glaube ich, dass die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit jetzt erst richtig beginnt".
Diese Einsicht passt zu dem eingangs erwähnten Eindruck, dass in der jüngsten Vergangenheit besonders zahlreich Bücher veröffentlicht wurden, in denen sich die, zum Teil auch nicht mehr jungen, Nachkommen von NS-Tätern und -Täterinnen mit ihren Familien beschäftigen und endlich die notwendigen Fragen stellen: "Ich hätte meinem Vater gerne so viele Fragen gestellt. Aber wer weiß, ob ich mich getraut hätte." (René Freund, dessen Vater kein Täter war...).
Mögen die Veröffentlichungen der Nachkommen von Opfern der NS-Zeit ebenso zahlreich erscheinen.
AVIVA-Tipp: Der Fall des Deserteurs Gerhard Freund ist unspektakulär, es gibt keine schweren Kriegsauseinandersetzungen, die der junge Mann zu überstehen hatte, auch die Zeit des Untertauchens in Paris und der Kriegsgefangenschaft ist, verglichen mit anderen Fällen, als harmlos zu bezeichnen. Es gelingt es dem Autor zwar, die Schrecken des Krieges (nicht neu und dennoch auf besondere Art) zu veranschaulichen – UND die Auswirkungen traumatischer Kriegserlebnisse auf die nächsten Generationen zu zeigen. (Es gibt, nicht nur in Berlin, inzwischen Gruppen von Enkeln/Enkelinnen, die genau diese Zeit ihrer Familiengeschichte thematisieren, sich austauschen und Fragen stellen!)
Zum Autor: René Freund, geboren 1967, lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Völkerkunde, war 1988 bis 1990 Dramaturg am Theater in der Josefstadt. Bücher (u.a.): Stadt, Land und danke für das Boot (Realsatiren, 2002), Wechselwirkungen (Roman, 2004). Im Deuticke Verlag sind erschienen "Liebe unter Fischen" (2013) und seine Familiengeschichte "Mein Vater, der Deserteur".
René Freund
Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte
Wien, 2014. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
206 Seiten mit Schwarzweiss-Abbildungen. Hardcover.
EUR 18,90 – auch als E-Book
ISBN 978-3-552-06256-6
www.hanser-literaturverlage.de