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Beitrag vom 20.11.2014
Anne Hahn - Gegenüber von China
Angelina Boczek
Bei dem Buch der Berliner Autorin, die aus Magdeburg stammt, soll es sich um einen Roman handeln, im Verlagstext heißt es "autobiographisch geprägter Debütroman ... ein ganz eigener Wenderoman".
Nach der Lektüre zeigt sich, daß es sich offensichtlich um die Vermischung von stark autobiographischen und von romanhaften Teilen handeln dürfte.
Der Buchtitel und die Coverabbildung (die junge Anne Hahn mit Rucksack und Wanderschuhen) suggerieren, dass hier die Geschichte einer bzw. ihrer abenteuerlichen Flucht verhandelt wird. Darum geht es aber in diesem Buch nur kurz!
Anne Hahn schreibt über die achtziger Jahre in Magdeburg, in der jugendliche Punks in der Stadt allerhand Schabernack treiben, die Protagonistin Nina ist Teil dieser Punkszene. Sie berichtet im Präsens als Ich-Erzählerin von der Familie, den Freunden und Freundinnen, vor allem von Mo und Katrin, deren Entwicklung die Leser/in ebenso verfolgen kann, wie die der Hauptfigur Nina. Für Dialoge benutzt die Autorin häufig die Jugendsprache der damaligen Zeit.
Dass Punks im täglichen Leben Repressionen ausgesetzt waren in der DDR, dürfte bekannt sein, auch davon wird im Buch anschaulich berichtet. Aber auch vom Spaß, der Ausgelassenheit, den kleinen Freiheiten, nicht nur auf Punkkonzerten, den Trinkgelagen, den Sexgeschichten.
Wir erfahren von den drei jungen Frauen im Perspektivwechsel und im Wechsel der Erzählzeiten, was sie bewegt. Alle drei, die sehr unterschiedliche Ziele verfolgen bzw. ziellos sind, scheinen die "Scheißzone" satt zu haben. Mo ist depressiv, Katrin will "hier aktiv die Gesellschaft ... verändern", nur Nina will raus aus der DDR.
Sie und der Freund Tim begeben sich auf jugendlich-naive Art und Weise, es scheint, Hals-über-Kopf, auf die Flucht, die, wie vorauszusehen, misslingt. Der Buchtitel "Gegenüber von China" und die Fluchtschilderungen im Buch deuten an, wie vage die Planung verlief (ob die Vorbereitungen in Wirklichkeit wesentlich anders geplant waren, können wir nicht beurteilen).
Im Buch wird von der Flucht kurz und bündig berichtet. Tim und Nina werden erwischt, es folgt die Inhaftierung. Die Knastschilderungen Anne Hahns sind eindrucksvoll (sie hat es selbst erlebt!). Und es war Anfang 1989 nicht abzusehen, dass der Aufenthalt "nur" ein halbes Jahr dauern wird.
In den letzten Kapiteln erfahren wir von der Haftentlassung (Ninas Mutter spielt hier eine überraschend positive Rolle), den Auswirkungen des Mauerfalls auf die früheren Freunde und Freundinnen, der Ankunft im Westen bzw. von den Erfahrungen nach der Wende. Noch einmal tauchen Mo und Katrin im Text auf, Nina erzählt von neuen Lieben, die ihr begegneten, von einem früheren Freund und späteren Stasi-Spitzel, der Nina seinen Verrat beichtet.
Der Text bricht abrupt ab. Für Nina (und den Leser/in) bleibt alles offen.
Die Dialoge, die Anne Hahn ihren Figuren hier lässig in den Mund legt, sind zum größten Teil sehr witzig, treffend, authentisch. Der erzählende Text ist nicht chronologisch, hat aber gerade deshalb seinen Reiz. Wenn es um die Figuren Mo und Katrin geht, ist er oft etwas plakativ, ein wenig zu grell und vorhersehbar.
Die Protagonistin Nina ist der Autorin jedoch voll gelungen!
AVIVA-Tipp: Insgesamt ist das Buch ein weiteres wichtiges Dokument von erzählter DDR-Geschichte, aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel.
Zur Autorin: Anne Hahn, geboren 1966 in Magdeburg, studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin. 1989 wurde sie bei einem Fluchtversuch an der aserbaidschanisch/ iranischen Grenze verhaftet und war sechs Monate politische Gefangene in der DDR. Ihr 2005 veröffentlichter Roman über diese Flucht wurde im Herbst 2014 unter dem Titel "Gegenüber von China" im Ventil Verlag neu aufgelegt. Anne Hahn lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Anne Hahn
Gegenüber von China
Broschur, 288 Seiten
Ventil Verlag, 1. Aufl. Oktober 2014
15,00 Euro
ISBN 978-3-95575-025-1
www.ventil-verlag.de