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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 10.11.2014


Sarah Diehl - Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift
Claire Horst

Ihre Bücher erscheinen immer genau zum richtigen Zeitpunkt für mich. Kaum hatte ich die Pubertät hinter mir, gab Sarah Diehl die Anthologie "Brüste kriegen" heraus, die sich mit weiblicher...




... Pubertät beschäftigte.

Wie für Sarah Diehl ist auch für mich die Pubertät inzwischen in die Ferne gerückt, und statt "Was willst du mal werden, wenn du groß bist", wird mir eher die Frage nach dem Kinderwunsch gestellt. Meine Frauenärztin, die mich früher bei jedem Besuch danach fragte, hat inzwischen aufgehört. Immerhin. Mit 36 scheint aus ihrer Sicht meine Uhr abgelaufen.

Warum meist davon ausgegangen wird, dass Frauen einen Kinderwunsch haben, was das für Frauen ohne einen solchen bedeutet und welche Modelle jenseits der heterosexuellen Kleinfamilie möglich sind, diesen Fragen nähert sich Diehl über Gespräche mit Frauen verschiedenen Alters – mit Müttern und mit kinderlosen Frauen, mit lesbischen und heterosexuellen, mit älteren und jüngeren, mit Frauen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Wohnorten.

"Wie normal erscheint die eigene Kinderlosigkeit anderen Frauen? Wie beeinflusst sie ihr Selbstverständnis, und welche positiven Vorbilder hat eine kinderlose Frau zur Verfügung? Haben sie sich bewusst gegen ein Kind entschieden, oder war das für sie nie eine Option? Wie nutzen sie ihre Freiräume? Wie reagiert das Umfeld auf die Kinderlosigkeit? Wie wichtig sind Autonomie und Unabhängigkeit für sie und spricht ein Kinderwunsch immer dagegen? Und wenn ja, warum ist das in unserer Gesellschaft so?"

Sarah Diehl zeigt auf, wie mit vermeintlich biologisch festgeschriebenen Regeln Politik gegen die Selbstbestimmung der Frauen gemacht wird: "Da Gesellschaft und Politik es bislang versäumt haben, ein zeitgemäßes Konzept von Mutterschaft zu entwickeln, um Frauen heute zum Kinderkriegen zu motivieren, wird der kinderlosen Frau permanent eingeredet, dass sie ihre Entscheidungen psychologisch qua ihrer Natur bereuen muss."

Biologistische werden dabei mit völkischen Argumenten verknüpft, wie Diehl aufzeigt, wenn sie die Angst vor "Überfremdung" und die Abschottung Europas gegen Einwanderung mit der gleichzeitigen Panikmache um das "Aussterben der Deutschen" diskutiert.

Ihre Untersuchung beginnt sie mit einer Analyse des Begriffs der Kindheit. Sie zeichnet nach, wie das Kind als schützenswertes Wesen, das Ideal von der kindlichen Unschuld und der zentralen Aufgabe der Frau als deren Behüterin erst mit der Aufklärung entstand. Dass das Konzept des "Bonding" zwischen Mutter und Kind, ohne das der Nachwuchs angeblich schweren Schaden nehmen würde, ebenso historisch bedingt ist wie die Behauptung, dass Fürsorge eine "weibliche" Kompetenz sei, stellt sie deutlich heraus – und allein für die entlastende Wirkung dieser Darstellung sei ihr gedankt.

Die Autorin nimmt auch Aspekte in den Blick, die sonst in der Debatte unter den Tisch fallen. Zwar diskutiert auch sie die Ursachen für die Unvereinbarkeit von "Karriere" und Mutterschaft, stellt aber auch das Konzept der Karriere in Frage. Was, wenn eine Frau weder den Aufstieg auf der Karriereleiter, noch die Mutterschaft zum Ziel hat? Diese Möglichkeit taucht in all den Feuilletondiskussionen kaum auf. Und warum eigentlich werden Männer so selten in Haftung genommen? Diehl zieht eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung heran, die verdeutlicht, wie ungerechtfertigt Frauen die Verantwortung zugeschoben wird:

"Tatsächlich liegt der Anteil der Männer ohne Nachwuchs bei den Dreißig- bis Vierunddreißigjährigen um zwanzig Prozent höher als bei den gleichaltrigen Frauen. Unter den Endvierzigern sind ein Viertel der Männer ohne Kinder, aber nur knapp sechzehn Prozent der Frauen, Dennoch wird die Verantwortung für die Fortpflanzung weiterhin ganz selbstverständlich an die Frauen delegiert."

Dass nur acht Prozent der Alleinerziehenden Männer sind, sieht die Autorin als Beweis dafür, "welchem Geschlecht in unserer Gesellschaft vermittelt wird, dass es sich leichter aus der Verantwortung ziehen kann."

Wie gut und wie ermutigend, dass Diehl auch Gesprächspartnerinnen gefunden hat, die alternative Modelle leben. Die als Co-Mütter, als Wahltanten oder in kollektiven Lebensgemeinschaften Kontakt zu Kindern haben oder auch nicht. Die zeigen, dass es andere Möglichkeiten gibt, glücklich zu werden als in der Erfüllung vermeintlich biologischer Voraussetzungen.

AVIVA-Tipp: Das Buch erweitert die einseitig geführte Debatte um das befürchtete "Aussterben der Deutschen" um wichtige Aspekte. Dass es noch andere Gründe als die Angst um verpasste Karrierechancen geben könnte, wenn Frauen sich gegen ein Kind entscheiden, wird viel zu selten diskutiert. Im Vorwort erklärt die Autorin, dass sie ursprünglich auch Männer befragen wollte. Schnell habe sich aber herausgestellt, dass das Thema diese einfach nicht so sehr beschäftige wie die Frauen. Viel seltener würden sie mit der Frage konfrontiert, warum sie denn kinderlos seien. Dass ihre Stimmen fehlen, ist ein bisschen schade. Denn, wie Diehl feststellt: "Fürsorglichkeit sollte nicht mit einer diffusen Vorstellung von Weiblichkeit verbunden werden, sondern ein Wert sein, mit dem sich alle identifizieren können. (...) Wir brauchen Solidarität auf vielen Ebenen, nicht nur innerhalb von Familien. Wir brauchen eine offene, moderne Gesellschaft, die nicht einseitig fördert oder sanktioniert." Ein wichtiges und Mut machendes Buch ist "Die Uhr, die nicht tickt" allemal – und bei aller Informationsfülle flüssig und unterhaltsam zu lesen.

Zur Autorin: Sarah Diehl, geboren 1978, studierte Museologie, Afrikawissenschaften und Gender Studies. Sie arbeitet zum Thema "Reproduktive Rechte im internationalen Kontext", hat zwei Anthologien veröffentlicht und einen preisgekrönten Dokumentarfilm gedreht: "Abortion Democracy: Poland/South Africa". 2012 erschien ihr erster Roman "Eskimo Limon 9". Sarah Diehl lebt als Autorin, Publizistin und Filmemacherin in Berlin. (Verlagsinformationen)
Mehr Infos unter: twitter.com/SahraDiehl und www.abortion-democracy.de sowie www.facebook.com/DIEUHRDIENICHTTICKT

Sarah Diehl
Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift

Arche Verlag, erschienen im November 2014
Broschur, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7160-2720-2
14,99 Euro
www.w1-media.de


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Claire Horst