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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.09.2014


Tania Witte - bestenfalls alles
Ahima Beerlage

Was passiert, wenn deine mühsam erkämpfte multikulturelle Identität sich in Nichts auflöst? In ihrem dritten Roman schickt die Journalistin und Spoken-Word-Performerin ihre queere Clique...




... auf einen turbulenten Roadtrip durch die Vergangenheit.

Tekgül, Model und Frauenliebhaberin, lässt sie sich die Haare abschneiden - die glänzende Mähne, von denen die StylistInnen bei Shootings schwärmten. "Und wie sie glänzen! Man sieht sofort, dass Sie nicht aus Deutschland kommen!" Tekgüls Aufträge als Model haben in der letzten Zeit deutlich abgenommen, meistens wurde sie nur noch wegen ihres multikulturellen Hintergrundes und ihrer tätowierten Medusa gebucht. Grund genug, sich endlich ihrem Traum widmen. Und sie hat Glück. Sie wird im fünften Anlauf an der Hochschule der Künste angenommen.

Auch für ihre Freundinnen ändert sich das Leben. Marte, ihre Ex, bekommt mit ihrem Freund ein zweites Kind, das ihr über den Tod des ersten hinweghelfen soll, und Nicoletta wird von ihrer längst vergessenen Vergangenheit eingeholt. Vor Jahren hatte eine Beziehung mit einer Frau aus der Schweiz. Sie heiratete deren Bruder, um mit ihrer Liebsten in der Schweiz leben konnte. Doch Hals über Kopf ist sie aus dem gemeinsamen Leben mit den Geschwistern geflohen. Nun ist dieser Bruder tot. Das Ausmaß dessen, was sie seit damals verdrängt hat, ist ihr stückchenweise aufgegangen - in dem Tempo, in dem die Todesnachricht den über die Jahre mühsam angelagerten Staub von den Scherben fegte. Seit dem kaut Nicolette auf aufgewirbelten, knirschenden Erinnerungen. Und die Erinnerungen an diese Zeit sind alles andere als schön. Immer tiefer waren sie und ihre Geliebte, forciert von deren Bruder, in den Drogensumpf gesunken. Nicoletta wachte schließlich auf und flieht, bevor es zu spät ist. Jahrelang war sie überzeugt, dass ihre Ex-Geliebte Isabelle diese Drogenhölle nicht überlebt haben konnte. Doch der Tod von Simon stellt alles in Frage und Nicoletta will sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit machen.

Tekgül besucht ihre Eltern Filiz und Ian in ihrer alten Heimat Unna, bevor sie mit ihrem neuen Leben als Kunststudentin beginnen will. Tekgül streichelt das Auto um die Kurven ihres Geburtsortes, folgt vertrauten Straßennamen und Erinnerungen an Vorgärten und Geranien, an bösartige Kinderreime, an das Gefühl vielfachen Andersseins. An wundervolle Spielplätze zwischen Schnellstraße und Waldrand und an Gelächter. Tekgül fühlte sich trotz aller Anfeindungen bei ihrer resoluten türkischen Mutter und ihrem sturen irischen Vater immer geliebt und sicher.

Doch diese Sicherheit zerbricht mit einem Federstrich. Ihre Eltern gestehen ihr, dass Tekgül, ihr Röslein, adoptiert wurde. Und dieses Geständnis ringen sie sich nur ab, weil ihre leibliche Mutter gestorben ist und ihr etwas hinterlassen hat. Die Frau, die sie geboren hat, heißt Silke Pfaff. Und diese hat ihre Tochter Franziska Yvonne in ihrem Testament bedacht. Ihre ganze Karriere baute sich auf ihre exotische Herkunft auf, auf ihr vermeintlich orientalisches Aussehen. "Exotisch, denkt sie, Dass ich nicht lache! Franziska Yvonne Pfaff. Das kann nur ein schlechter Witz sein."

Das Fremdsein war ihr vertraut. Hat sie in ihrer Kindheit unter dem Anderssein gelitten, macht sie es als Erwachsene zu ihrem Kapital und genießt ihren exotischen Status. Und nun soll sie eine stinknormale Deutsche aus Friedrichshafen am Bodensee sein? Nach anfänglichen emotionalen Sturmböen, die Tekgül nur mit Nicoletta an ihrer Seite in den Griff bekommt, machen Nicoletta und Tekgül aus der Not eine Tugend. Zum Entsetzen ihrer Freundinnen wollen sich beide zusammen auf die Spurensuche in ihrer Vergangenheit machen. Es wird eine turbulente Reise, die alle Beteiligten verändert.

Tania Witte ist eine leidenschaftliche Erzählerin, die ihre Inspiration in der queeren Szene und den Straßen Berlins findet. Die turbulenten und manchmal skurrilen Wendungen im Leben ihrer ProtagonIstinnen werden konterkariert durch ihren trockenen, oft selbstironischen Ton. Nichts scheint unmöglich - nicht einmal, dass aus einem coolen, multikulturellen Model eine stinknormale Deutsche wird.

AVIVA-Tipp: Tania Witte bleibt sich selbst treu. Atemlos und plotlastig lässt sie die LeserInnen teilhaben am skurrilen Leben ihrer queeren Clique. Manche Wendung ist vielleicht zu viel und auch für Neueinsteigerinnen sind einige Andeutungen ohne die vorhergehenden beiden Romane unverständlich. Doch für ihre Fangemeinde und alle Serienfans von LipService, L-Word und Co. ist auch die Erzählfreude in ihrem dritten Roman aus der Reihe Kult.

Zur Autorin: Tania Witte lebt in Berlin. Seit 1999 arbeitet sie als freie Journalistin, Lektorin und Film-, Musik- und Literaturkritikerin. Neben ihren Romanen schreibt sie für taz, Missy Magazine, Siegessäule und das ZEITmagazin. Als Spoken-Word-Performerin liebt sie die Bühne. Sie gibt zahlreiche Workshops zu Spoken-Word, Schreiben und der Kunst, sich in einen Drag-King zu verwandeln. Rastlos in Berlin unterwegs, moderiert sie Veranstaltungen und kooperiert auch über die Grenzen des Schreibens hinweg mit vielfältigen Kunstprojekten nicht nur in Berlin. In Gestalt ihres Alter Egos Caya Te tritt sie als Spoken Word-Performerin auf. Gemeinsam mit vier anderen KünstlerInnen hat sie 2008 die queere Spoken-Word-Bühne "Shut Up And Speak" ins Leben gerufen und lotet in interdisziplinären Kooperationen mit anderen KünstlerInnen die Grenzen von Darstellender und Bildender Kunst, von Wort und (bewegtem) Bild aus.
Bisher von ihr erschienen: "leben nebenbei", Roman Berlin 2012, "beziehungsweise liebe", Berlin 2011, "Draq Kings. Mit Bartkleber gegen das Patriarchat" (Herausgeberin, Mit-Autorin) Berlin 2007.

Tania Witte im Netz: www.taniawitte.de und www.cayate.de

Tania Witte
bestenfalls alles

Querverlag, erschienen September 2014
Broschiert, 288 Seiten
ISBN: 978-3-89656-224-1
14.90 Euro
auch als eBook auf Kindle und iTunes
www.querverlag.de

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Beitrag vom 22.09.2014

Ahima Beerlage