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Beitrag vom 26.08.2014
Karine Tuil - Die Gierigen
Dorothee Robrecht
Der für den Prix Goncourt nominierte Roman ist ein furioses Sittengemälde über das Frankreich von heute – über Araber und Juden, über Rassismus, über den Zwang, Erfolg haben zu müssen und darüber,..
... was dieser Zwang mit Menschen macht.
Karine Tuil ist der Star der französischen Literaturszene: Drei mal schon war die Pariserin nominiert für den Prix Goncourt, auch mit diesem, ihrem neunten Buch. Erschienen ist das französische Original im Herbst 2013 unter dem Titel "L´invention de nos vies", und auch wenn es den höchsten Literaturpreis des Landes letztendlich nicht bekam – das Medienecho war enorm. Ganz offenbar hat dieser Roman in Frankreich einen Nerv getroffen, und das wohl auch, weil einer der beiden Männer, um die es geht, ein sex-maniac ist, der an Dominique Strauss-Kahn erinnert.
Inspiriert allerdings, so Karine Tuil, habe sie nicht Dominique Strauss-Kahn, sondern das aktuelle gesellschaftliche Klima, in dem es vor allem darum gehe, Erfolg zu haben, hochzuklettern auf der sozialen Leiter, koste es was es wolle. Und tatsächlich: In ihrem Buch ist Erfolg der Fetisch, nicht Sex. Was (Miß)Erfolg mit Menschen macht und vor allem auch, was Menschen machen, um Erfolg zu haben, beschreibt der Roman anhand der Geschichte zweier Freunde, die zusammen aufwuchsen in der Pariser Banlieu.
Der eine heißt Sam Tahar, ein äußerst viriler und ehrgeiziger Mann. Der Roman erzählt, wie er, Sohn arabischer Immigranten, Jura studiert und trotz Bestnoten Probleme hat, eine Arbeit zu finden. Überzeugt davon, seine arabische Herkunft sei schuld, gibt er sich als Jude aus, und diese Lüge fruchtet auch - zunächst zumindest. Sam Tahar macht eine geradezu unglaubliche Karriere, die ihn hochkatapultiert bis in die Gipfel der New Yorker High Society. Er heiratet eine Jewish American Princess, die Tochter eines der reichsten Unternehmer in den USA, hat zwei Kinder mit ihr und schläft ansonsten mit jeder, wirklich jeder Frau, die ihm halbwegs attraktiv erscheint. Gewalt anwenden muss er nicht. Einem Mann, der zutiefst überzeugt ist von sich und seiner sexuellen Attraktivität, kann keine widerstehen, so zumindest beschreibt es der Roman.
Die zweite Geschichte ist die des Samuel Baron. Baron hat mit Tahar studiert, ist aber in Paris geblieben und fristet dort ein eher kümmerliches Dasein. Sein Geld verdient er als Sozialarbeiter, als Schriftsteller ist er gescheitert. Samuel Baron ist Jude, kein Araber, doch an seiner Herkunft krankt auch er. Er schreibt ein Buch, in dem er sein Scheitern analysiert als Folge elterlichen Drucks, eines Drucks, der besonders stark war, weil seine Eltern Diskriminierung erlebten. Solche Eltern, so sein Fazit, erwarten die Rettung von ihren Kindern, sie brauchen deren Erfolg, um sich rehabilitiert zu fühlen. Und ganz offensichtlich ist das eine Erfahrung, die auch die Autorin Karine Tuil gemacht hat:
"Meine Eltern, jüdische Einwanderer aus Nordafrika, hatten ein sehr starkes Bedürfnis, sich zu integrieren und zu assimilieren. Deshalb interessiert mich das Thema Diskriminierung. Ich habe dieses Buch mit der sozialen Wut geschrieben, die ich in mir habe aufgrund meiner Herkunft."
Wütend ist ihr Buch tatsächlich und furios der Stil – ein Stil, der Rap zitiert, wenn er slashes setzt statt Punkt und Komma: ///. Psychologisch absolut überzeugend, liest es sich wie ein Krimi, und nicht selten stockt der Atem. Dann zum Beispiel, wenn die Vergewaltigung einer 13jährigen durch eine Gang von Jungs beschrieben wird, als passierte sie im Hier und Jetzt. Dass Diskriminierung Gewalt bedeutet, macht das Buch ganz unmissverständlich klar. Genauso auch, dass diese Gewalt oft eine sexualisierte ist und Frauen ganz besonders trifft. Gerade deshalb aber verwundert, wie blass die Frauen sind, die Karine Tuil in ihrem Roman beschreibt. Den "Bechdel-Test" jedenfalls würde er nicht bestehen. Drei Fragen nur stellt dieser Test: Kommen mindestens zwei Frauen vor? Sprechen sie miteinander? Wenn ja, nur über Männer oder auch über anderes?
Die Antwort auf die erste Frage ist: ja. Es gibt mehr als zwei Frauen in diesem Buch, drei sogar. Doch alle drei sind Statistinnen, definiert ausschließlich über ihr Verhältnis zu einem der beiden Männer, als Mutter, Geliebte, Gattin. Nina zum Beispiel, die Frau, die beide lieben – diese Nina hat nicht wirklich einen Charakter, den der Roman entwickeln würde. Sie ist schön, einfach schön, und ansonsten eher Klischee als Mensch: ein Model, das sich aushalten lässt, erstaunlich passiv ist und aktiv wird erst dann, als das Geld ausbleibt.
Zu Frage Zwei, der Frage danach, ob Frauen miteinander reden in diesem Buch: Nein, das tun sie nicht. Was vielleicht logisch ist, denn viel zu sagen haben sich Ehefrauen und Geliebte wohl nur selten. Und dennoch: Während die Männer im Buch Freunde haben mit denen sie reden, sind die Frauen allein, eine Freundin hat keine. Das Buch hat fast 500 Seiten, doch nicht eine gibt ein Gespräch zwischen zwei Frauen wieder. Womit auch Frage Drei beantwortet wäre: Geredet wird in diesem Buch nur über Männer - von einer Frau allerdings, die eine ziemlich fantastische Schriftstellerin ist.
AVIVA-Tipp: Brillant geschrieben (und übersetzt) - lesenswert besonders für Franko- und Androphile, die die diversen Anspielungen auf politische Skandale und Skandälchen zu schätzen wissen.
Zur Autorin: Karine Tuil, geboren 1972, studierte Jura in Paris und beschäftigt sich derzeit in ihrer Doktorarbeit mit gesetzlichen Bestimmungen zu Wahlkampfkampagnen in den Medien. Sie ist Autorin mehrerer gefeierter Romane und lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Paris. (Verlagsinformation)
Die Autorin im Netz: twitter.com/karinetuil
Karine Tuil
Die Gierigen
Originaltitel: L´invention de nos vies
Ãœbersetzt von Maja Ueberle-Pfaff
Gebunden mit Schutzumschlag, 479 Seiten
Aufbau Verlag, erschienen 18. August 2014
978-3-351-03378-1
19,95 Euro
www.aufbau-verlag.de
Weiterführende Links:
Karine Tuil im Interview mit Brigitte Bontour, Le Nouvel Observateur
Le Nouvel Observateur
Der Bechdel-Test, benannt nach der amerikanischen Cartoonistin Alison Bechdel, die in einem ihrer Comics eine Frau sagen lässt, sie sehe sich Filme grundsätzlich nur dann an, wenn sie drei Bedingungen erfüllen: 1. Es müssen mindestens zwei Frauen vorkommen. 2. Die Frauen müssen miteinander reden, und das – 3. – nicht nur über Männer.
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