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Beitrag vom 08.08.2014
Gabriele Goettle - Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems
Helga Egetenmeier
In achtzehn kurzweiligen Artikeln informiert die Autorin über die enttäuschenden Auswirkungen der Entwicklungen im deutschen Gesundheits- und Sozialsystem. Mit dieser dunklen Seite der...
... Einkommensschere setzen sich ihre GesprächspartnerInnen seit Jahren auseinander und können deshalb erklären, warum unsaubere Statistiken und ihre Fehlinterpretationen demografischen Schrecken verbreiten, Putzfrauen ein Krankenhauszimmer in dreieinhalb Minuten reinigen müssen, gut bezahlte ArbeiterInnen zu rechtlosen LeiharbeiterInnen werden, Arme keine kostenlose Brille bekommen und Ehrenamtliche bezahlte Arbeitsplätze verhindern.
Gabriele Goettle geht für ihre Interviews detailverliebt und sympathisch nahe an ihre GesprächspartnerInnen heran, besucht sie in Begleitung der Buchillustratorin Elisabeth Kmölniger in deren Küche, Garten oder Büro und lässt sich dort das Flechtwerk zwischen PolitikerInnen, LobbyistInnen und ökonomischen Interessen erklären.
So konnte Dr. Morgan, Mitgründer der Aktion Demokratische Gemeinschaft e.V., nach jahrelanger Kleinarbeit beweisen, dass der für die ungerechte Besteuerung des "Normalrentners" herangezogene "typisierte Pflichtversicherte", der 45 Jahre arbeitet, ledig, männlich und gut verdienend ist, auf falschen Tabellen und fehlerhaften Analysen beruht. "Dass Frauen bei uns, trotz Verfassung, weniger verdienen als Männer und dass sie in der Regel jämmerliche Renten bekommen, das müsste sich auch schon bis zu den Experten durchgesprochen haben." empört er sich über diesen offensichtlichen Betrug.
Daten und Statistiken sind mit ihren interessengeleiteten Interpretationen ein ständiger Begleiter der täglichen Nachrichten. Dies führt Dr. Bosbach, Professor für Statistik, vor, indem er das gezielt eingesetzte Schreckgespenst der Demographie durch seine Lesart zerbrechen lässt.
Die Deutungen statistischer Angaben, das wird in allen Gesprächen sichtbar, spielen eine erhebliche Rolle in der Geldverteilung. Und so wirft sich fast wie nebenbei die Frage auf, warum die politisch Verantwortlichen nicht in der Lage sind, gegen statistisch vorhersehbaren Mangel an LehrerInnen, ÄrztInnen, ErzieherInnen und Pflegekräften zeitig anzusteuern.
Wie im Kampf um die jährlich anfallenden Milliarden der BeitragszahlerInnen die Demontage des Gesundheitssystems zugunsten der ökonomischen Interessen privater AnbieterInnen den Krankenversicherten lautlos untergeschoben wird, führt die Publizistin Renate Hartwig aus.
Dagegen ist bei der 1997 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Ärztin Jenny De la Torre Castro das Geld knapp für die Obdachlosenarbeit, doch ihre Motivation eindeutig: "Ich bin Ärztin geworden, weil ich helfen wollte". Seit der Gesetzesänderung 2009 nehmen ihre Stiftung vermehrt in Armut geratene, gut ausgebildete, aber nicht-krankenversicherte Menschen in Anspruch. Neben einigen fest Angestellten trägt sich ihre Einrichtung nur durch viel ehrenamtliche Arbeit.
Von einer historischen Perspektive aus blickt Dr. phil. Gisela Notz auf das "Ehrenamt" und formuliert eine massive Kritik an dieser meist weiblichen, "kostenlosen Ressource", die nach dem Erziehungs- und Altenpflegebereich nun auch auf den Kulturbereich übergreift. Ehrenamt und Verarmung sind eine Seite der Medaille der Demontage des Sozialstaates, die auch der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge aufgreift und dabei auf die menschenverachtende rhetorische Ausgrenzung der in Armut Lebenden durch PolitikerInnen und Medien hinweist.
Gekonnt ineinandergreifend verzahnen sich die Gespräche von Goettles InterviewpartnerInnen zu einem beachtlichen Puzzle engagierter KämpferInnen, die ihr Anliegen verständlich vermitteln und sich dabei der Demokratie und Gerechtigkeit verpflichtet fühlen. Dass sie dabei immer wieder über die Absurdität der rechtsstaatlichen Entwicklungen staunen, zeigt der Ausspruch von em. Prof. Dr. rer. nat. Inge Schmitz-Feuerhake über ihre nicht umsetzbare Untersuchung zu Leukämiehäufungen: "Der Bock als Gärtner, das glaubt keiner."
AVIVA-Tipp: "Ich hoffe, dass sich Widerstand regt, es gibt genug denkende Leute", zitiert die engagierte Autorin den Statistiker Bosbach auf der letzten Buchseite. Genauso hoffen lässt diese Glanzleistung eines kritischen Journalismus mit seiner schwer verdaulichen Artikelsammlung. Nach der happenweisen Lektüre können sich die LeserInnen, die bestimmt manches schon ahnten, viele vorgeschobene Sachzwänge besser erklären. Frau Goettle gehört für die verständliche Wiedergabe dieser komplexen Sachverhalte ein großes Lob und zu dieser Gesprächssammlung der Hinweis, dass sie in keiner Bibliothek fehlen sollte.
Zur Autorin: Gabriele Goettle geboren 1946, studierte Bildhauerei, Literaturwissenschaften, Religionswissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin. Seit den 1980er Jahren schreibt sie Reportagen über den Alltag in der BRD, vor allem für die taz. Mehrere Bände sind von ihr in der "Anderen Bibliothek" erschienen: "Deutsche Sitten", "Deutsche Bräuche", "Deutsche Spuren", "Die Ärmsten", "Die Experten". Zuletzt erschien bei Kunstmann "Der Augenblick - Reisen durch den unbekannten Alltag". Die Autorin wurde 1995 mit dem Ben-Witter-Preis und 1999 mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Alle in diesem Buch aufgeführten Gespräche wurden zwischen 2012 und 2014 geführt und sind in der taz erschienen.
Zu Elisabeth Kmölniger geboren 1947, ist Comic-Zeichnerin und -Autorin, sowie Photographin und Buchillustratorin. Sie arbeitete bereits bei früheren Büchern mit Gabriele Goettle zusammen und begleitete die Autorin auch bei diesem Buch.
Gabriele Goettle
Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems
Verlag Antje Kunstmann, erschienen im März 2014
Hardcover mit Schutzumschlag, 252 Seiten
ISBN-13: 978-3888979354
19,95 Euro
www.kunstmann.de
Weitere Infos unter:
LobbyControl, Berlin
Deutschlandfunk zur Seminarreihe "Advert Retard" an der Charité, Berlin
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Interview mit der Obdachlosenärztin Dr. Jenny de La Torre (2003)
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