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Beitrag vom 15.04.2014
Dominique Manotti - Ausbruch
Helga Egetenmeier
Wer hätte gedacht, dass aus dem zitternden Kleinganoven Filippo, der kurz nach Carlos Tod bei Lisa vor der Wohnungstür kauert, ein gefeierter Schriftsteller wird. Dominique Manottis neuer Krimi...
...ist wieder ein klar gezeichneter "Roman Noir", angesiedelt im Paris der Exil-ItalienerInnen der 80er Jahre und gleichzeitig eine Reflexion über den literarischen Schöpfungsakt.
Nach einem hektischen Gefängnisausbruch mit dem altgedienten Widerstandskämpfer Carlo ahnt der junge Filippo schon, dass sich sein Leben verändern wird. Entgegen seinen Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft, muss er sich nun wochenlang alleine durchschlagen und landet schließlich hilfesuchend bei Carlos Freundin Lisa in Paris.
Doch sie will mit diesem einsilbigen, jungen Ganoven nichts zu tun haben, besorgt ihm eilig eine Untermiete bei der Exil-Italienerin Cristina und verdrängt ihn aus ihrem Leben. Aber die Verbundenheit zu Carlo und sein mysteriöser Tod lässt beide nicht los. Und so nimmt ihr Kampf um Wahrheit und Wirklichkeit ihren gegensätzlichen Lauf.
Dichtung und Wirklichkeit
Damit ihr Freund Carlo nicht als gemeiner Bankräuber, sondern als aufrechter politischer Kämpfer in Erinnerung bleibt, recherchiert Lisa über geheim gehaltene Beziehungen zu den Umständen seines Todes. Gleichzeitig schreibt Filippo eine ausgeschmückte Rekonstruktion seiner Carlo-Geschichte nieder und landet damit einen Bestseller. So triumphiert er in der Öffentlichkeit, denn "Er, Filippo Zuliani, verfügt über eine sagenhafte Macht. Was er schreibt, ist wirklich. Nicht die Wahrheit, weit mehr als das: die Wirklichkeit."
Im Pariser Exil
In der Gemeinschaft der politischen ExilantInnen, zu denen Lisa und Cristina gehören, lässt Dominique Manotti scharf voneinander abgegrenzte Charaktere entstehen. Obwohl sich die ItalienerInnen zu regelmäßigen Besprechungen treffen, leben sie in einer fast explodierenden Spannung aneinander vorbei. Exil bedeutet für sie Einsamkeit, bestimmt von freudloser Selbstkritik und politischen Auseinandersetzungen.
Dagegen prägt Filippos Pariser Leben die soziale und kulturelle Distanz zu Lisa und zu seiner eleganten Vermieterin Cristina. Ihre Arroganz und Ablehnung beleidigen und faszinieren ihn. Fokussiert auf die beiden Frauen nimmt er die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten seines Bestsellers gar nicht war und wundert sich bei einer Signierstunde über "Massenhaft Leser. Leser, die ihn anblicken, und er erkennt sich nicht in ihrem Blick." Dass der Inhalt seines Buch für ihn auch gefährlich werden könnte, dringt nicht zu ihm durch.
Der französische "Roman Noir"
Die französische Kriminalliteratur, deren VertreterInnen sich unter dem Begriff "Roman Noir" zusammenfinden, einigt die Verknüpfung von Fiktion, historischen Begebenheiten und aktuellen Diskursen mit einem explizit politischen Anspruch. Der "Roman Noir" versteht sich als Spiegel der Gesellschaft, in der die Welt nicht besser wird, nur weil ein Verbrechen aufgeklärt wurde, die sozialen Unruhen bleiben weiterhin, es gibt kein glückliches Ende.
Neben Dominique Manotti gehören auch Chantal Pelletier und Brigitte Aubert zu den Vertreterinnen dieser in Frankreich weit verbreiteten Stilrichtung des Kriminalromans.
Die Kriminalromane von Dominique Manotti
Bei den Recherchen zu einem Buch und dem folgenden Schreibprozess nimmt sich Dominique Manotti als Historikerin wahr. Ereignisse und Personen existieren für sie erst dann, wenn sie datiert und lokalisiert sind - was die LeserIn an den Zwischenüberschriften im Buch erkennen kann. Für Manotti ist diese Genauigkeit, zusammen mit einem lebhaftem Subjekt fundamental für ihre Arbeit.
Auf ausgeprägte Frauenfiguren, die ihren Romanen Struktur geben und sie vorantreiben, legt Manotti großen Wert, auch wenn diese nicht in den Vordergrund treten. In ihrem Wirtschaftsthriller "Letzte Schicht" ist dies die resolute Arbeiterin Rolande Lepetit. Und in dem Politthriller "Roter Glamour" entwickelt sich die junge Polizistin Noria Ghozali gegenüber einem mächtigen Präsidentenberater weiter und erscheint wieder als ranghohe Ermittlerin in Manottis Polizeithriller "Einschlägig bekannt" - um hier nur drei ihrer sieben ins Deutsche übersetzten Krimis zu nennen.
Auszeichnungen:
1995: Prix Sang d´encre für "Sombre sentier" (auf deutsch: "Hartes Pflaster")
2002: Prix Mystère de la critique für "Nos fantastiques années fric" (auf deutsch: "Roter Glamour")
2008: Duncan Lawrie International Dagger für "Lorraine connection" (auf deutsch: "Letzte Schicht")
2011: Deutscher Krimi-Preis, Kategorie International (Platz 3) für "Letzte Schicht"
AVIVA-Tipp: Die Intensität des Erzählten und die faszinierende Distanz des Schreibstils machen "Ausbruch" zu einem rasanten Lesevergnügen. Und dies besonders, da uns die Historikerin Manotti mit ihrem Krimi eine komplexe Geschichte präsentiert, die sich nicht mit Banalitäten aufhält, sondern stattdessen mit einer angenehmen Leichtigkeit ihren eigenen Wirklichkeitswert in Frage stellt.
Zur Autorin: Dominique Manotti, mit bürgerlichem Namen Marie-Noelle Thibault, wurde am 24. Dezember 1942 in Paris geboren. Die Historikerin lehrte an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, war als Gewerkschafterin und in verschiedenen politischen Bewegungen aktiv. In den 80er Jahren wechselte sie aus Desillusionierung über die Politik der Mitterrand-Regierung vom politischen Engagement zur Literatur. Romane zu schreiben ist für sie eine Verlagerung des Terrains, ihre politischen Überzeugungen fließen weiterhin in ihre Romans Noirs ein.
Weitere Informationen unter:
www.argument.de
www.dominiquemanotti.com
Dominique Manotti
Ausbruch
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: L´évasion, Éditions Gallimard, Paris
Aus dem Französischen von Andrea Stephani
Argument Verlag, erschienen im März 2014
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 256 Seiten
ISBN-13: 978-3-86754-218-0
17,00 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Letzte Schicht
Roter Glamour
(Quelle: www.kultur-macht-europa.eu)