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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 19.12.2013


Irène Alenfeld - Der Kipod. Geschichten von Damals
Doris Hermanns

Geschichten von Leben dazwischen: als Kind in einer jüdisch-christlichen Familie im Berlin der 30er Jahre, in Israel zwischen Juden und Palästinensern, Geschichten von Ausgrenzungen, aber auch ...




... von Verständigungen.

Irène Alenfeld erzählt in diesem Buch Geschichten von Ruth, einem Mädchen, das während des Faschismus in einer christlich-jüdischen Familie aufgewachsen ist. Ihre Großeltern waren jüdisch, hatten aber ihre Kinder taufen lassen. Erinnerungen an sie und diese Entscheidung werden in diesem Buch immer wieder thematisiert: "War es die Liebe zur Heimat, war es die Sehnsucht nach dem Eingebettetsein in der großen Mehrheit, die ihre Großeltern zum Übertritt veranlasst hatten? Sie wollten ganz dazu gehören – also ließen sie die Kinder taufen.
Oder war es ausschließlich rationell erkannter Nutzen, der sie zu ihrem halb vollzogenen Schritt bewog? Denn sie selbst verharrten im alten Glauben. Aber wer glaubte schon zäh und unerbitterlich im Zeitalter der Aufklärung, da alle Welträtsel erklärbar schienen."


Während des Faschismus lernt Ruth, ihr Geheimnis zu bewahren denn sie wollte überleben, und musste dazu lügen lernen: "Nun ist es gesagt. Nun ist man nicht mehr allein. Drei elfjährige Mädchen stehen unter dem gleichen Schicksal. Sie haben ein Geheimnis zu hüten, sie haben darüber das Lügen gelernt, aber den Krieg und die Nazis werden sie überleben!"

Ihre Kindheitserlebnisse prägen sie, wie die Autorin schreibt: "Ich wurde zu einer aufmerksamen Beobachterin, die wie ein Seismograph auch kleine Erschütterungen wahrnahm.", sie wurde dadurch zu einer, die für Verständigung zwischen EuropäerInnen eintrat.
Auch als Erwachsene macht Ruth in den Erzählungen immer wieder die Erfahrung, zwischen den Stühlen zu sitzen, sei es in Deutschland oder in den zahlreichen anderen Ländern, in die sie reist.
In Deutschland erlebt sie unmittelbar nach dem Krieg das Trennende, das unterschiedliche Erfahrungen zuwege gebracht haben: "Unsichtbar stand eine Mauer in der Aula. Keiner wurde daran zerschmettert. Sie hatten ja überlebt. Eine Scheidewand war es eher, die trennte zwischen denen, die gehofft hatten und vertröstet wurden auf einen neuen Anfang – und den anderen, die nie verstanden und vielleicht nie einen Neubeginn erwartet hatten."

Nach dem Krieg geht sie als halbverhungertes Kind eine Zeitlang nach Norwegen, das ihr als gastfreundliches Land erscheint. Aber auch hier werden Forderungen gestellt, wie sie erfährt, war die Bedingung für diese Reise: "man musste jung sein, protestantischen Glaubens, doch jüdischer Abstammung." Und sie schämt sich, dass sie ihre Abstammung hervorheben muss.
Frankreich wird zum "Fluchtpunkt ihrer Sehnsucht", sie will in einem Land ohne Vorurteile studieren, im Land der Freiheit und der Brüderlichkeit und der Gleichheit. Aber bereits in ihrer Zeit als Au-pair Mädchen wird sie eines Besseren belehrt, Vorurteile sind dort genauso verbreitet, wie sie schnell erfährt, egal, ob sie sich gegen DienstbotInnen, AlgerierInnen oder gegen Jüdinnen und Juden richten.
Immer wieder reist sie auch nach Israel, voller Hoffnungen: "Diesmal wog das Alleinsein viel mehr. Denn Ruth hatte gemeint, nach Hause zu kommen. Doch sie kannte keinen Menschen und die Welt, die sie umgab, war ihr fremd."
Sehr detailliert beschreibt die Autorin die Reisen und die Begegnungen mit den Menschen in Jerusalem, wie auch in den palästinensischen Gebieten. Auch hier wechselt sie die Seiten, fühlt sich als "Ungetreue", als eine, die Tabus bricht. Sie findet neue Freunde und Freundinnen, während alte Freundschaften über die Jahre an unterschiedlichen Einstellungen zerbrechen.
Was sie dabei findet, ist "keine neue Heimat" – eher viele Erinnerungen an die alte Welt, die hier eine neue Ausdrucksform, neuen Lebenswillen gefunden hatte.
Wie die Autorin schreibt, hat sie sich "bemüht, hinzusehen und das Vergangene zu verstehen, um der Zukunft willen".

AVIVA-Tipp: "Der Kipod. Geschichten von Damals" erzählt eindrücklich ein Leben im Dazwischen und der Versuch beide Seiten zu verstehen, der manchmal dazu führt, niemand mehr zu vertrauen. Es ist der scharfe Blick der Autorin und ihre genauen Beschreibungen, die dieses Buch so lesenswert machen.

Zur Autorin: Irène Alenfeld wurde in Berlin geboren, studierte in Paris und London und war als internationale Konferenzdolmetscherin tätig. Ab 1961 freiberuflich, bereiste sie Asien, Afrika und Amerika und war viele Male in Israel. Daneben war sie freie Publizistin für Zeitungen, Zeitschriften und Hörfunk. Sie starb am 3. Dezember 2013.
Ihr besonderes Interesse galt der Exilforschung. Zuletzt erschien ihre Familienbiografie unter dem Titel Warum seid ihr nicht ausgewandert? Überleben in Berlin 1933 bis 1945 (Verlag für Berlin-Brandenburg, 2012)
(Quelle: Verlagsinformationen)

Irène Alenfeld
Der Kipod. Geschichten von Damals

AvivA Verlag, erschienen September 2013
Broschur, 185 Seiten
ISBN 978-3-932338-59-5
14,90 Euro
www.aviva-verlag.de

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Beitrag vom 19.12.2013

Doris Hermanns