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Beitrag vom 03.12.2013
Gabrielle Bell - Die Voyeure
Lea Albring
Aus der Sicht ihres Comic-Alter-Egos berichtet die Autorin von einem Leben, das aus Alltagsnöten und berufsspezifischen Besonderheiten besteht. Auf der einen Seite geht es um kaputte PCs und...
... Fernbeziehungen, dann wiederum um Künstlerinnenkrisen und Auftritte bei Comicmessen. Das Buch ist ein persönlicher Rückblick auf die vergangenen Jahre der Zeichnerin und darüber hinaus eine Momentaufnahme der Gegenwart – in Teilen sogar ein Psychogramm unserer Zeit.
Endlich auch Hierzulande
Lange hat es gedauert, nun wird Gabrielle Bell auch auf Deutsch verlegt. In den USA ist die Comicautorin längst mehr als nur ein Geheimtipp, wiederholt wurde sie mit dem Ignatz Award ausgezeichnet, dem Oscar der alternativen Comicszene. Fernab von SuperheldInnenen und Bösewichten erzählt sie autobiografisch gefärbte Geschichten, oft melancholisch, manchmal surreal, immer allerdings scharf beobachtet und ultraprägnant: In nur einem Bild kommuniziert sie Themen, die sonst ganze Diskussionen füllen. Bell ist eine kritische Analystin des Zeitgeschehens, "Die Voyeure" ist der beste Beleg dafür.
Im Eingangskapitel ihres gezeichneten Tagebuchs erzählt sie nicht ohne Ironie und doch mit nachvollziehbarer Verzweiflung von der "Not", die fünf Tage ohne Computer in ihr auslösen. Nach der Heimkehr aus der PC-Werkstatt bemerkt das Comic-Ich von Bell in typisch selbstreferenzieller Manier: "Zu Hause wollte ich das Wetter checken. Ich wusste, es war kalt und windig, aber ich brauchte Fakten." Solche Feststellungen gibt es viele, sie bestechen durch ihre Einfachheit und sind doch die reinsten Augenöffner: Das Gefühl des Ertappt-worden-seins macht sich nicht nur beim Bellschen Alter Ego breit.
Underground-Provinienz und Comic-Prominenz
Ganz klar verortet sich das Werk der Künstlerin im Fahrwasser des Amerikanischen Untergrund Comics, der in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren des prüden Amerikas mit provokanten Tabubrüchen und gesellschaftskritischen Themen gegen Micky Maus, Superman und das Standardrepertoire einer einseitigen Branche revoltierte. Robert Crumb, Galionsfigur dieser Bewegung, tritt daher nicht zufällig in Bells Zeichentagebuch auf. Inhaltlich reicht es nur für eine kurze Erwähnung, stilistisch ist der Einfluss Crumbs allerdings omnipräsent: Ein sich selbst reflektierendes, zur Neurose neigendes Comic-Ich ist das Markenzeichen des Zeichners.
Der alternativen Zeichenszene und ihren Besonderheiten gibt Bell viel Raum in ihren Geschichten, es geht um Vorträge und Messen, Honorardebatten und immer wieder ums Zeichnen. Die Künstlerin liefert damit eine interessante Innensicht, deren Anspielungen allerdings nicht immer ohne Vorwissen funktionieren.
"Die Voyeure" ist ein vielschichtiges Werk, das Schlaglichter einer Künstlerinnenbiografie mit Insiderwissen und Gesellschaftskritik kombiniert. Der Titel ist Programm, nicht nur die LeserInnen sind BeobachterInnen eines fremden Lebens. Die analytische Distanz des gezeichneten Alter Egos zu sich selbst macht Bell zur Voyeurin in ihrer eigenen Geschichte.
AVIVA-Tipp: Bells messerscharfer Blick auf die eigene Vita und das Gesellschaftsgeschehen gelangt in ihren prägnanten Zeichnungen und schlauen Kommentaren zum Ausdruck. Mit Tiefgang und künstlerischer Distanz beschreibt sie ein Leben, dass trotz seiner Spezifik viele Anknüpfungspunkte für Identifikation und Selbsterkenntnis bietet.
Zur Autorin: Gabrielle Bell, geboren 1976 in London, lebt heute in New York und gilt als eine der herausragenden Erzählerinnen der US-amerikanischen Independent-Szene. Bevor der Verlag "Alternative Comics" unter dem Titel "When I´m Old and Other Stories" eine Sammlung ihrer frühen Comics herausgab, machte sie mit Selbstveröffentlichungen auf sich aufmerksam. Ihre Comics wurden mehrfach für den "Houghton-Mifflin Best American Comic" sowie der "Yale-Anthology of Graphic Fiction" ausgewählt. Im Jahr 2003 erhielt sie für ihre Comicserie "Lucky" den renommierten Ignatz Award. Gemeinsam mit Bell adaptierte der Regisseur Michel Gondry die Titelgeschichte ihres letzten Buches "Cecil and Jordan in New York" für den Film "Interior Design". "Die Voyeure" ist die erste Graphic Novel von Gabrielle Bell, die auf Deutsch erscheint.
(Quelle: Verlagsinformationen).
Die Comiczeichnerin im Netz: www.gabriellebell.com
Gabrielle Bell
Die Voyeure
Originaltitel: The Voyeurs
Ãœbersetzt von Thomas Stegers
Metrolit Verlag, erschienen September 2013
Gebunden, 160 Seiten, 4-farbig
ISBN 978-3-8493-0072-2
22,99 Euro
www.metrolit.de