Caroline Stoessinger - Ich gebe die Hoffnung niemals auf. Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz-Sommer - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 24.11.2013


Caroline Stoessinger - Ich gebe die Hoffnung niemals auf. Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz-Sommer
Doris Hermanns

Am 26. November 2013 wurde die tschechisch-israelische Pianistin und älteste Holocaust-Überlebende 110 Jahre alt. Am 23. Februar 2014 ist Alice Herz-Sommer in London gestorben. Die Dokumentarfilmerin Stoessinger führte über sieben Jahre hinweg zahlreiche...




... Gespräche mit ihr.

23. Februar 2014Alice Herz-Sommer im Alter von 110 Jahren gestorben

Die Pianistin starb am 23. Februar 2014 in London. Nach Angaben ihres Enkels Ariel Sommer sei sie friedlich eingeschlafen.
Für Alice Herz-Sommer, die trotz allem immer Optimistin geblieben war, bedeutete Musik bis an ihr Lebensende alles: "Music was our food. Through making music we were kept alive".
Der Dokumentarfilm "The Lady in Number 6" von Malcolm Clarke lässt uns teilhaben an der Philosophie und am Leben dieser außergewöhnlichen Frau, die nun nicht mehr ist. theladyinnumber6.com



Die Konzertpianistin, Gründerin und Direktorin der Mozart Academy of New York Caroline Stoessinger lernte die älteste Konzertpianistin der Welt bei den Vorbereitungen für einen Dokumentarfilm über deren Leben kennen und greift thematisch auf diese Gespräche zurück, erzählt jedoch keine chronologische Geschichte von deren Leben.
Stoessinger hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits seit Jahren mit der in der Zeit des Holocaust entstandenen Musik, vor allem mit der Musik aus Theresienstadt, befasst. Sie versuchte der Frage nachzugehen, wie jemand unter solchen Bedingungen Konzerte geben oder Musik schreiben konnte.

Alice Herz wurde 1903 in Prag geboren, wo sie in einer bürgerlichen, deutschsprachigen jüdischen Familie aufwuchs. Beinahe jede Familie besaß ein Klavier und Alice Herz wusste schon früh, dass sie Musikerin werden wollte, denn zu musizieren hatte sie von jeher glücklich gemacht. Da zu dieser Zeit Musik noch weitgehend in der eigenen Wohnung gespielt wurde und Hauskonzerte eine beliebte Form der Unterhaltung darstellten, war sie immer umgeben von anderen Musizierenden. Sie spielte regelmäßig gemeinsam mit ihrem Bruder Paul und später auch mit dessen Schulkameraden, einem Cellisten. Gemeinsam traten sie als Trio auf.
Ihre Ausbildung erhielt Alice Sommer an der Deutschen Akademie für Musik in Prag. Anschließend gab sie sowohl Klavierunterricht als auch Solokonzerte. Eine Karriere als Solistin war für sie jedoch immer weit weniger wichtig, als das Streben nach persönlichen Spitzenleistungen.

Als 1939 die Tschechoslowakei von den Deutschen besetzt wurde, konnte sie noch relativ lange in Prag leben, auch wenn ihr Alltagsleben immer weiter eingeschränkt wurde. Konzerte waren von den Nazis verboten worden, fanden aber im Geheimen statt, Instrumente mussten abgegeben werden. 1943 wurde sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn, der 1937 geboren wurde, ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort musste sie erst in der Wäscherei arbeiten und wurde dann eingesetzt, um für die Kriegsproduktion Glimmer zu spalten. Neben diesen Zwangsarbeiten durfte sie täglich eine Stunde ein schlecht funktionierendes Klavier nutzen.
Die Nazis versuchten nach außen den Schein aufrecht zu halten, dass Theresienstadt ein "Kurort" sei, die musikalischen Veranstaltungen dort kamen ihnen daher gelegen, schienen sie doch der Außenwelt zu zeigen, dass dort mit den Juden "alles in Ordnung" sei.
So konnte Alice Herz-Sommer in diesem Konzentrationslager mehr als 100 Konzerte geben, während ihr Sohn über fünfzig Mal in der Kinderoper Brundibár unter der Leitung von von Hans Krása und Adolf Hoffmeister mitspielte. Auch Klavierunterricht gab sie dort, wenn auch sehr eingeschränkt. Anders als unzählige andere wurden sie und ihr Sohn nicht weiter verschleppt und überlebten das Lager, ihr Mann jedoch wurde nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.

"Die Nazis begriffen nicht, dass die Macht der Musik, den Darbietenden und ihrem Publikum Trost zu spenden, stärker war als der Terror der braunen Aufseher. Jedes in Theresienstadt komponierte Musikstück und jedes dort gespielte Konzert wurde zu einem moralischen Sieg über den Feind."

Nach Kriegsende wanderte sie zusammen mit ihrem Sohn zu ihren Schwestern, die vor dem Krieg geflüchtet waren, nach Israel aus. In Jerusalem unterrichtete sie an der Rubin-Akademie. Für sie waren diese Jahre die glücklichsten ihres Lebens. "Israel verkörperte damals Vergangenheit und Zukunft zugleich. Es war eine Zeit großer Hoffnungen. Alles schien möglich."
1968 zog Alice Herz-Sommer nach dem Tode ihrer beiden Schwestern nach England, um wieder in der Nähe ihres Sohnes leben zu können.

Für Alice Herz-Sommer mit ihrer lebenslangen Neugierde und ihrer Offenheit stand immer im Mittelpunkt, ihr eigenes Spiel zu perfektionieren und nach persönlichen Spitzenleistungen zu streben. So begann sie im Alter von über einhundert Jahren, als zwei ihrer Finger steif wurden, damit, ihr Repertoire mit acht Fingern neu einzuüben.

"Ich gebe die Hoffnung niemals auf" berichtet nicht in chronologischer Reihenfolge über ihr Leben, sondern setzt thematische Schwerpunkte, die es zuweilen schwierig machen, sich ein wirkliches Bild von dem Leben von Alice Herz-Sommer zu machen. So handelt das erste Kapitel von Kafka, mit dem keineswegs sie selber befreundet war, sondern ihr Schwager. Andere Kapitel berichten beispielsweise über ihre Freundschaft mit Golda Meir und ihre Teilnahme am Eichmann-Prozess. Abgerundet wird das Buch mit Beschreibungen ihrer aus fünf Freundinnen bestehenden Wahlfamilie, zu der u.a. auch die Überlebende des Frauenorchesters in Auschwitz, Anita Lasker-Wallfisch gehört.
Erst nach und nach bekommen die Lesenden einen Eindruck von ihrem Leben, wobei jedoch irritiert, dass persönliche Weisheiten in ihren eigenen Worten in Kursivschrift in den Text eingesetzt nochmals wiederholt werden.

AVIVA-Fazit: Ein bewegtes Jahrhundertleben, das auf eine andere Art und Weise besser hätte erzählt werden können. Die Zeitsprünge erschweren es der Leserin, sich ein echtes Bild von Herz-Sommers Leben machen zu können. Der Schwerpunkt auf den "Weisheiten" stört eher, als dass er eine Bereicherung für die Lesenden wäre. Trotzdem lesenswert als erstes Kennenlernen mit dieser beeindruckenden Frau.

Zur Autorin: Caroline Stoessinger, selbst international bekannte Konzertpianistin und Kulturmanagerin sowie Gründerin und Direktorin der Mozart Academy of New York, ist mit Alice Herz-Sommer seit vielen Jahren befreundet. Sie befasst sich schon lange mit der Musik, die in Theresienstadt komponiert und aufgeführt wurde. Sie lebt in New York.
Mehr Infos im Video "Caroline Stoessinger talks about Alice Herz-Sommer" unter:
www.youtube.com
(Verlagsinformationen)


Caroline Stoessinger
Ich gebe die Hoffnung niemals auf. Hundert Jahre Weisheit aus dem Leben von Alice Herz-Sommer

Mit einem Vorwort von Václav Havel
Originaltitel A Century of Wisdom
Ãœbersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Ralf Pannowitz und Christiane Wagler
Knaus Verlag, erschienen 2012
Gebunden, 272 Seiten
18,99 Euro
www.randomhouse.de

Die Biographie von Alice Herz-Sommer auf Fembio

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Quelle:
Melissa Müller & Reinhard Piechocki: Alice Herz-Sommer "Im Garten Eden inmitten der Hölle". Ein Jahrhundertleben. München 2006, Droemer Verlag




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Beitrag vom 24.11.2013

Doris Hermanns