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Beitrag vom 18.11.2013
Jennifer Egan - Black Box
Lea Albring
Die Entstehung eines literarischen Textes könnte kaum absurder sein: Die 47 kurzen Kapitel des Buches setzen sich aus Tweets zusammen, die die Autorin zu einem dystopischen Agentinnenthriller mit..
... rasantem Erzähltempo und medienkritischer Absicht verbindet – ein furioses Experiment über die Strapazierfähigkeit von Literatur und Erzähltechnik.
Das Diktat der 140 Zeichen
Unbestritten ist Jennifer Egan eine virtuose Erzählerin, spielend leicht wechselt sie die Perspektive, verwebt einzelne Handlungsstränge geschickt miteinander und durchbricht eine lineare Geschichte immer wieder mit Vor- und Rückblenden – kaum etwas davon findet sich in ihrem neuen Buch "Black Box". Und dennoch ist es ein Meisterstück der Erzählkunst, das aufzeigt, was Literatur leisten kann.
Als die Autorin beschloss, eine Geschichte zu schreiben, die sie via Twitter häppchenweise in die Weiten des WWW hinausschickte, startete sie ein sprachliches Experiment. Als alle Tweets gesendet sind und die Geschichte komplett ist, wird sie im Juni 2012 erst gebündelt im "New Yorker" und anschließend in Buchform veröffentlicht.
Es ist legitim zu fragen, warum sich die Pulitzer-Preisträgerin dem Diktat der 140 Zeichen aussetzt? Ausgerechnet sie, deren erfolgreichster Roman "Der größere Teil der Welt" der beste Beweis dafür ist, dass sie ihren Geschichten und Charakteren viel Raum und Zeit für Entwicklungen lässt. Wider Erwarten gehen Social Media und Kunst bei Egan allerdings nicht Hand in Hand, ihr aktuelles Werk ist vielmehr ein Kräftemessen zwischen Literatur und moderner Kommunikationstechnik. Es ist, als wolle sie sagen: Seht her, (meine) Kunst kennt keine Grenzen.
Ein dystopischer Stream of Consciousness
Schon die ersten Seiten machen deutlich: Nicht die Form, sondern Erzählmodus und Inhalt animieren zum Weiterlesen. Der lebensgefährliche Einsatz einer Spionageagentin wird aus einer distanzierten Perspektive beschrieben, die sich als Mischung von externen Anweisungen und den Gedanken der Agentin erweisen. Diese dystopische Vision eines Stream of Consciousness offenbart das Innenleben eines technisch aufgerüsteten Körpers, der mit High-Tech-Implantaten zu einer Menschmaschine geworden ist: "Denk daran, dass zu viel Denken sinnlos ist. / Beim Denken wirst du merken, dass diese als Hilfe gedachten `Feldinstruktionen´ immer weniger hilfreich sind. / Deine eigenen Feldinstruktionen werden in einem Chip unter deinem Haaransatz gespeichert." In diesem Sinne zeichnet der Text eine Zukunft von vertechnisierten Körpern, die Kameras im Auge und Übertragungskabel zwischen den Zehen implantiert haben. Als "Black Box" degradiert ist die Agentin kaum mehr als intelligenter Informationsträger, ein USB-Stick mit Emotionen.
Die Form unterstützt den Inhalt
Es ist kein Zufall, dass sich die Kritik an Technik und modernen Medien in das Gewand von Twitter-Einträgen hüllt – die Form spiegelt den Inhalt, die kurzen Textnachrichten beschleunigen die Handlung und reflektieren die Schnelllebigkeit der Medienwelt. In vielen Tweets wirft Egan implizit und manchmal auch ganz explizit einen mahnenden Blick auf die Lebensumstände und Begleiterscheinungen unserer rasend schnellen Kommunikationswelt, wenn es etwa heißt: "Man darf getrost davon ausgehen, dass ein beleuchtetes Display seinen Benutzer von einem Blitzlicht in einiger Entfernung ablenken wird." Sätze wie "Du musst jeden Tag genau überlegen, welches der beste Zeitpunkt zum Senden des Signals ist" oder "Die Technik hat ganz gewöhnlichen Menschen die Möglichkeit eröffnet, zu einem Stern im Kosmos glanzvoller Leistungen zu werden" erfahren auf dem Boden von Medien- und Gegenwartskritik eindeutig eine doppelte Lesart.
Ein modernes Gedicht
Die Agentin, die auf einen nicht weiter konturierten brutal-mächtigen Mann angesetzt ist, befindet sich beständig im Modus der Selbst- und Fremdanalyse – auch dies karikiert die Auswüchse von Social Media, denn ein Leben im Hyperreflexionsmodus führen in Zeiten von Facebook-Postings und Twitter-Nachrichten längst nicht mehr nur Agentinnen, die Angst davor haben, enttarnt zu werden. Egan gelingt es, die kombinierten Twitter-Texte derart zu verdichten, dass sie die Belanglosigkeit, die von der Form erzwungen wird, in ihr Gegenteil verkehrt. Jedes Wort ist bewusst gewählt, jeder Kurztext ist wichtig. Die Kombination der Nachrichten erschafft eine rasend spannende Geschichte, die auf wenigen Seiten sehr viel sagt. "Black Box" ist keine Sammlung von Tweets, wie sie jede/r erstellen könnte, sondern ein modernes Gedicht, das sowohl über die Bedingungen von Kunst als auch über unsere multimediale Gegenwart sinniert – ein echtes Kunststück.
AVIVA-Tipp: Auch in ihrem aktuellen Buch erprobt Egan neue Wege des Erzählens. Mit ihrer Geschichte im Twitter-Stil hat sie etwas geschaffen, was es so noch nicht gab: Aus Einzelstücken strickt sie eine kohärente Erzählung, wobei viele Tweets aus dem Kontext gerissen auch für sich stehen können. Die künstlerische Interpretation von 140 Zeichen zeigt eindrucksvoll, dass scharfsinnige, prägnante Literatur auch auf engstem Raum möglich ist.
Zur Autorin: Jennifer Egan wurde 1962 in Chicago geboren und wuchs in San Francisco auf. Neben ihren Romanen und Kurzgeschichten, von denen einige verfilmt wurden, schreibt sie für den New Yorker sowie das New York Times Magazine und lehrt an der Columbia University Creative Writing. Für ihren Roman "Der größte Teil der Welt" erhielt sie den Pulitzerpreis. Jennifer Egan lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, NY. (Quelle: Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: www.jenniferegan.com
Jennifer Egan
Black Box
Originaltitel: Black Box
Ãœbersetzt von Brigitte Walitzek
Schöffling & Co Verlag, erschienen August 2013
96 Seiten. Gebunden.
9, 95 Euro
ISBN: 978-3-89561-251-0
www.schoeffling.de
Diesen Titel können Sie online bestellen bei FEMBooks
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