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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 21.06.2013


Judy Dempsey - Das Phänomen Merkel. Deutschlands Macht und Möglichkeiten
Julia Lorenz

Maximale Beliebtheit, minimale Erfolge: Die irische Journalistin zieht eine ernüchternde Bilanz aus Angela Merkels Regierungszeit. Doch trotz ziel- und mutloser Politik scheint die Kanzlerin...




...populär wie eh und je. Warum eigentlich?

"Frau Bundeskanzlerin, lassen Sie sich in so einem Wahljahr die vielen neuen Merkel-Biografien kommen, und schauen Sie wenigstens die Cover an?", möchte Autorin und Merkel-Biografin Evelyn Roll im Interview mit der "ZEIT" von der Regierungschefin wissen. Im Gegensatz zu Günther Lachmanns und Ralf Georg Reuths umstrittener Publikation, die mit pseudobrisanten, wenig fundierten "Enthüllungen" über "Das erste Leben der Angela M. " aufwartet, verspricht Judy Dempseys jüngste Veröffentlichung tatsächlich Neuigkeiten. Und zwar keine guten für die Bundesregierung: Dempsey, Auslandskorrespondentin und langjährige Beobachterin der Politik der Kanzlerin, bescheinigt der mächtigsten Frau Europas, ihr Potential zu verspielen.

Mangelhaft bis ungenügend

Dempseys Urteil scheint der Bevölkerungsmeinung in Deutschland entgegengesetzt zu sein: Hierzulande darf sich Angela Merkel über konstant hohe Umfragewerte freuen. Auch der Vorwurf, Deutschland nutze seine Möglichkeiten als globaler Akteur nicht aus, scheint angesichts von Hegemonie-Vorwürfen und Nazi-Karikaturen aus Südeuropa absurd. Doch Judy Dempseys Analyse beschränkt sich nicht auf Merkels Umgang mit den verschuldeten Eurostaaten - die Autorin sieht viele unerledigte Hausaufgaben auf dem Tisch der Kanzlerin.

In einer umfassenden Betrachtung der deutschen Außenpolitik in der jüngeren Vergangenheit kritisiert sie Merkels Versäumnisse in diversen Bereichen: Uninspiriert und ohne Visionen sei ihre Europapolitik, nachlässig ihr Verhältnis zu US-Präsident Barack Obama, zögerlich ihre Haltung zum unbequemen Thema Militär. Ein wenig ambivalenter fällt Judy Dempseys Urteil zum Verhalten der Kanzlerin gegenüber Israel aus: Obwohl die "persönliche Antipathie" Merkels gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bereits zu einigen diplomatischen Spannungen geführt habe, gesteht Dempsey der Regierungschefin zu, sich der "besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel" bewusst zu sein. Nicht umsonst erhielt die Kanzlerin 2010 die Leo-Baeck-Medaille für ihre Verdienste um die deutsch-jüdische Versöhnung. Kaum bewusst ist sich Merkel laut Dempsey jedoch des enormen Potentials, das sie mit ihrer inkonsequenten Integrations- und Familienpolitik im eigenen Land verschenkt: Hier sieht die Irin großen Modernisierungsbedarf.

Die acht Kapitel lesen sich als Geschichte des Versagens, der nur wenige Erfolge - darunter die Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses -entgegengesetzt werden können. Dempseys Ton ist wohlwollend, aber bestimmt: Trotz persönlicher Sympathie für Merkel dekonstruiert sie den Status der Kanzlerin als starke Repräsentantin Deutschlands.

Allein im Männerclub

Als Auslandskorrespondentin und aufmerksame Beobachterin internationaler Beziehungen gewährt Judy Dempsey den LeserInnen einen Einblick in die Welt der diplomatischen Finessen, die Politik maßgeblich beeinflussen. So berichtet sie unter anderem über das außergewöhnliche Gastgeschenk, das die Kanzlerin bei ihrem Antrittsbesuch in Russland im Jahre 2006 entgegennehmen durfte: Staatschef Putin überreichte Merkel einen Plüschhund mit Leine. Was auf den ersten Blick wie ein unangemessener Scherz aussieht, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als perfide Machtdemonstration: Seit sie als Kind gebissen wurde, hat Merkel Angst vor Hunden. Nicht umsonst begleitet Putins Labrador-Hündin "Koni" ihn zu jedem Treffen mit der Kanzlerin. Während der russische Präsident zu Merkels Vorgänger Gerhard Schröder bekanntermaßen ein überaus enges Verhältnis pflegte, ist seine Beziehung zur Kanzlerin unterkühlt. Dies liegt laut Dempsey nicht zuletzt daran, dass eine klassische, herzliche "Männerfreundschaft" zu ihr nicht möglich ist. Angela Merkel ist Putin, Anhänger eines antiquierten und konservativen Frauenbilds, schlichtweg suspekt - und somit eine potentielle Zielscheibe für Diskreditierungen.

Was es für die Kanzlerin bedeutet, sich als eine unter wenigen weiblichen Führungspersönlichkeiten auf dem Parkett der internationalen Politik zu bewegen, wird in "Das Phänomen Merkel" nicht explizit thematisiert. Episoden wie diese demonstrieren jedoch, dass die Regierungschefin mancherorts noch immer unter dem Aspekt "Frau" wahrgenommen und bewertet wird.

Fairer Prozess

Dempsey hingegen interessiert sich für Merkel vor allem als politische Akteurin. Ein lobenswerter Ansatz, der erlaubt, sich der Kanzlerin unter dem objektiven Gesichtspunkt ihrer bisherigen politischen Errungenschaften zu nähern - und weder in Heldinnenverehrung noch in intuitive Ablehnung aufgrund von persönlichen oder parteipolitischen Antipathien zu verfallen. Auch den Verweis auf die DDR-Vergangenheit Merkels bemüht Judy Dempsey nicht, um zu relativieren oder anzuklagen. Kurzum: Der Kanzlerin wird ein fairer Prozess gemacht.

Doch was ist denn nun, das die Deutschen an ihrer Regierungschefin trotz aller offensichtlichen Verfehlungen so schätzen? Der Pragmatismus? Die Tatsache, dass ihr - anders als Vorgänger und Selbstdarsteller Schröder - die große Geste fernliegt? Oder gar ihre zögerliche "Nummer-Sicher"-Haltung, mit der sich wenig risikofreudige WählerInnen identifizieren können? Auch Dempsey vermag das Phänomen nicht abschließend zu erklären - und sieht dazu auch keine Veranlassung: Die Frage, ob wir die Kanzlerin nach mittlerweile acht Jahren im Amt schon richtig verstanden haben, verneint Dempsey klar: "Was für eine überhebliche Einstellung, zu denken, man würde einen Politiker verstehen! Dazu noch jemand wie Merkel, die ihre Persönlichkeit so stark abschirmt! Allenfalls können wir einen kleinen Ausschnitt von ihr verstehen: jenen Teil, der mit großem Geschick und großer Härte die Macht erobert hat und nun verteidigt", lässt sie im ZEIT-Interview verlauten. Eine Analyse des Menschen Angela Merkel kann und möchte die Journalistin also nicht liefern. Vielmehr ist "Das Phänomen Merkel. Deutschlands Macht und Möglichkeiten" als Einladung zu verstehen, Politik abseits von Phrasen, Gesten und persönlichen Prädispositionen zu verfolgen und zu bewerten.

AVIVA-Tipp: Wer sich die Frau hinter der "Merkel-Raute" näher erschließen möchte, wird bei Judy Dempsey kaum fündig werden. Dafür bietet ihre Publikation nicht nur eine pointierte Bewertung der politischen (Miss-)Erfolge der Kanzlerin, sondern auch einen äußerst unterhaltsam verfassten Abriss über die deutsche Geschichte und Außenpolitik der jüngeren Vergangenheit.

Zur Autorin: Judy Dempsey, geboren in Irland, ist Journalistin und Auslandskorrespondentin. Nach ihrem Studium der Geschichte und Politikwissenschaft am Trinity College in Dublin berichtete sie für die "Financial Times" und den "Economist" aus Mittel- und Osteuropa, später wechselte sie zur "International Herald Tribune". Seit 2005 begleitete sie Angela Merkel auf mehreren Auslandsreisen. Judy Dempsey lebt heute in Berlin und arbeitet für den Think Tank "Carnegie Europe".
Weitere Infos zur Autorin: www.carnegieeurope.eu/experts

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Judy Dempsey
Das Phänomen Merkel. Deutschlands Macht und Möglichkeiten

Edition Körber-Stiftung, Hamburg, erschienen am 31. Mai 2013
201 Seiten, kartoniert
16,00 Euro
ISBN 978-3896840974
Weitere Infos unter:
www.koerber-stiftung.de

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