Barbara Felsmann, Annett Gröschner, Grischa Meyer (Hg.) - Backfisch im Bombenkrieg. Notizen in Steno - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 31.05.2013


Barbara Felsmann, Annett Gröschner, Grischa Meyer (Hg.) - Backfisch im Bombenkrieg. Notizen in Steno
Claire Horst

Eher zufällig stießen die HerausgeberInnen Anfang der Neunziger Jahre auf die Aufzeichnungen von Brigitte Eicke. Für eine Ausstellung im Prenzlauer Berg Museum hatten sie über eine Anzeige...




... Zeitdokumente gesucht – und erhielten per Post die Tagebuchaufzeichnungen einer Jugendlichen, geschrieben in den Jahren 1942 bis 1945.

Dass es bis zu einer Veröffentlichung noch einmal 20 Jahre gedauert hat, ist vor allem der umfangreichen editorischen Arbeit geschuldet, die die HerausgeberInnen unternommen haben. So sind nicht nur alle Personen- und Ortsnamen mit Anmerkungen in der Randspalte versehen, es wurden auch heute ungebräuchliche Begriffe oder Dialektwörter mit Erklärungen versehen, Bücher und Filme erläutert und sämtliche verzeichneten Bombenangriffe mit offiziellen Aufzeichnungen verglichen. Ergänzt werden die Notizen der jungen Frau mit Fotos aus ihrem privaten Album und späteren eigenen Anmerkungen.

Denn anfangs hatte Eicke mit den Notizen nur begonnen, um Steno zu üben – sie befand sich damals in der Ausbildung zur Bürokauffrau. Als sie nach Kriegsende als Sekretärin arbeitete, tippte sie die Aufzeichnungen ab, wiederum ausschließlich zu Übungszwecken: Diesmal perfektionierte sie ihr Maschineschreiben. Aus dieser Zeit stammen die eingefügten Anmerkungen zum Text.

An eine Veröffentlichung hatte die Tagebuchschreiberin niemals gedacht, und das erklärt auch die teilweise schockierend naive Darstellung der Geschehnisse. Im Mittelpunkt stehen die ganz banalen Alltagserlebnisse einer Jugendlichen: Erste Kontakte zu Jungen, Flirts und Tanzabende. Vielleicht ganz normal in diesem Alter, schließlich war Brigitte Eicke zu Beginn ihrer Eintragungen erst 15 Jahre alt. Normalität, die gab es allerdings 1942 nur noch für einen Teil der Bevölkerung: für den "arischen", nicht-oppositionellen Teil. Für den Rest interessiert sich Gitti nicht.

Von Lebensfreude und Abenteuerlust ist da vor allem die Rede, Gitti geht tanzen, sieht Unterhaltungsfilme und genießt die ersten Küsse mit "schicken" jungen Männern. Selbstbewusst erzählt sie von ihren Erfolgen, in der Liebe ebenso wie beruflich. Denn obwohl sie aus einer einfachen Familie kommt, für die eine höhere Schulbildung nicht in Frage kommt, strebt sie nach oben und wechselt die Arbeitgeber, wenn ihr eine Stelle nicht zusagt. Ihr Selbstbewusstsein ist ebenso bewundernswert wie ihre Fähigkeit, sich weder vom beengten Leben in "Stube und Küche" noch von ständigen Bombenangriffen und dem frühen Verlust des Vaters und vieler Verwandter unterkriegen zu lassen.

Erschütternd ist etwas anderes, nämlich die fast vollkommene Abwesenheit von Vermerken auf die politische Situation, auf die Unterdrückung Andersdenkender, auf die Verfolgung und Vernichtung der JüdInnen. Mit Politik beschäftigt die junge Gitti sich überhaupt nicht – wenn, dann taucht das Thema nur in Bezug auf bewunderte Reden oder die Hoffnung auf den baldigen Endsieg auf. Größtenteils folgen darauf schnell Banalitäten, die für die Jugendliche von größerer Bedeutung waren – und sich außerdem zum Üben der Kurzschrift ebenso gut eigneten. Ein typischer Eintrag von 1943, Gitti ist in einem Schulungslager für BDM-Mädchen, lautet etwa so:

"… Frühsport, Waschen, Anziehen, Flaggenhissen, Frühstück, in Dienstkleidung Bettenappell, schnell in Zivil umziehen und runter zum Liedersingen, danach hielt Annemarie Kraust (eine fantastische Führerin) einen Vortrag, der anschließend besprochen wurde. Zum Mittagessen gab es Erbsen."

Wenn auch über das politische Denken der Lieschen Müllers kaum etwas zu erfahren ist, gibt die umfangreiche Schilderung der gekauften oder genähten Kleider, der umschwärmten Filmstars oder gelesenen Bücher doch einen guten Einblick in die Alltagskultur der NS-Zeit. Und die einzigen kritischen Worte, die die Autorin findet, beziehen sich dann auch auf Kulturelles oder auf alltägliche Ärgernisse wie das übergriffige Verhalten einiger Männer: "4. Mai 1943. Nachmittags hatten wir Kursus Schreibmaschine u. Steno und dann bekam ich Karten in die Hand gedrückt, zwei Stück, für den Kuppelsaal, der Titel der Veranstaltung war dem Sinn gemäß Deutsche Feste oder Deutsches Tanzen, so ähnlich. Herr Krüger von der Buchhaltung als Kulturreferent unserer Firma, ich und Waltraud gingen dahin. Herr Krüger ist ein mächtig alberner Knopf, überhaupt wenn Mädchen dabei sind. Im Geschäft fällt er einem auf die Nerven mit seinem Rumgetatsche, dauernd haut er einem auf den Po und hier macht er ununterbrochen alberne Witze, die nicht hierher passen und sehr zweideutig sind. Die Vorführungen waren ganz anständig, aber für die Öffentlichkeit kaum zu verwerten. SS-Männer und Mädchen in z.T. Dirndlkleidern zeigten, wie in Zukunft getanzt werden muss, ganz steif und recht weit voneinander entfernt. Gehetzt wurde über den Jazz, Foxtrott (für uns das Beste). Um 10 Uhr war ich zu Haus, Tante Walli war bei uns."

Insofern ist das Tagebuch einerseits eine bereichernde Ergänzung der bereits bekannten Zeitdokumente, weil es einen ungeschönten Einblick in die Wahrnehmung einer überzeugten Hitler-Anhängerin zeigt, einer BDMlerin, die auch im April 1945 noch an den Endsieg glaubt und schon kurz nach Kriegsende entnazifiziert wird. Auf der anderen Seite ist ein erschütterndes Dokument für die Gleichgültigkeit und die menschliche Fähigkeit zum Verdrängen. Denn auch im 1995 geführten, ebenfalls im Buch enthaltenen Interview mit den HerausgeberInnen nennt Eicke den Kriegstod eigener Angehöriger als die schlimmste Erinnerung an die NS-Zeit und spricht von der eigenen großen "Enttäuschung", als sie von den Verbrechen der Deutschen erfuhr. Zur Vernichtung der Jüdinnen und Juden fällt ihr immer noch wenig ein:

"Es ist erstaunlich, wie viel man nicht registriert hat. Neulich hat mein Sohn gefragt, hast du denn davon nichts mitgekriegt, hinter eurer Firma am Hackeschen Markt gingen doch die Transporte ab, in dem jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße, sagte er, das war doch in unmittelbarer Nähe zu den Hackeschen Höfen. Davon habe ich nichts mitgekriegt, ganz ehrlich nicht. Wir gingen auch nie da hinten lang. Wir gingen von der Rosenthaler Straße aus in die Büros oder, wenn wir zum Kaufhaus am Rathaus mussten, über den Hackeschen Markt und durch den Bahnhof Börse."

Immerhin, einige ihrer Eintragungen kommen auch Eicke heute nicht mehr ganz korrekt vor, etwa ihre abfälligen Bemerkungen über russische Zwangsarbeiterinnen.

AVIVA-Tipp: Mit diesem außergewöhnlichen Dokument gelingt es, die Gedankenwelt vieler MitläuferInnen nachzuvollziehen, erzählt aus der Perspektive einer überzeugten Anhängerin Adolf Hitlers, die es schaffte, gleichzeitig vollkommen unpolitisch zu sein. Wie alltäglich das Nebeneinander von Tanzvergnügen und Wachdienst im Bombenkeller sein konnte, bleibt sonst kaum vorstellbar. Unbedingt lesenswert.

Zu den HerausgeberInnen:

Barbara Felsmann
, 1956 in Berlin geboren, veröffentlichte zahlreiche Rundfunkfeatures und -reportagen bei MDR Figaro und Deutschlandradio Kultur sowie Dokumentarliteratur. Lebt als freie Journalistin und Autorin im Land Brandenburg.

Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, lebt seit 1983 in Berlin. Sie schreibt Romane (Moskauer Eis, 2000, Walpurgistag, 2011), Erzählungen, Dokumentarliteratur, Reportagen (zuletzt Mit der Linie 4 um die Welt, 2012) , Theater- und Hörfunkstücke (zuletzt Kind ohne Zimmer am Deutschen Theater Berlin, 2012) und arbeitet zusammen mit dem Fotografen Arwed Messmer an literarisch-fotografischen Buch- und Ausstellungsprojekten, zuletzt Berlin, Fruchtstraße am 27. März 1952 (2012). Mit Barbara Felsmann hat sie 1998 das Buch Durchgangszimmer Prenzlauer Berg herausgegeben, das 2012 in einer Neuauflage erschien. Mit Grischa Meyer bildet sie seit 1992 die Projektgruppe Kriegspfad, aus der heraus auch das vorliegende Buch entstand.

Grischa Meyer, geboren 1950 in Berlin, arbeitete als Buchhändler, Karikaturist, Plakat- und Buchgestalter, Bühnenbildner und lebt als Fotograf und Autor in Prenzlauer Berg. Er erhielt zahlreiche Preise für Buch- und Plakatkunst.
(alle: Verlagsinformationen)

Barbara Felsmann, Annett Gröschner, Grischa Meyer (Hg.)
Backfisch im Bombenkrieg. Notizen in Steno 1943–45

Matthes&Seitz Berlin
Mit zahlreichen Abbildungen
399 Seiten, Klappenbroschur
Herausgegeben, mit einer historischen Chronik und einem Glossar von Barbara Felsmann, Annett Gröschner und Grischa Meyer
29,90 Euro
ISBN 978-3-88221-983-8
Erschienen im März 2013

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