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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 26.03.2013


Marie Darrieussecq - Prinzessinnen
Julia Lorenz

Madonna singt über Defloration, Sophie Marceau knutscht sich durch "La Boum", und selbst in der französischen Provinz wird klar: Der Sex ist im Mainstream angekommen. Und im Leben von Solange,...




...die alles daran setzt, den "Initiationsritus" für Erwachsene endlich hinter sich zu bringen.

Was wenige Jahrzehnte vor ihrer Zeit zum guten Ton gehörte, bereitet Teenager Solange Kopfzerbrechen: "Es gibt Mädchen, die sind mit zwanzig noch Jungfrau. Nicht auszudenken." Alle anderen tun es schließlich auch. Rose, die sich intellektuell und abgeklärt gibt, die angebliche Nymphomanin Delphine und Laetitia, die lieber Frauen küsst: Während der Welthit "Like a virgin" aus allen Boxen schallt, träumt die baskische Landjugend von Sex.
In Clèves, einem verschlafenen Provinznest, das TouristInnen weitaus mehr bietet als den jungen AnwohnerInnen, sucht Solange nach den Antworten auf die drängenden Fragen ihrer erwachenden Sexualität - und lässt sich zunächst mit einer betrunkenen Discobekanntschaft, später mit Arnaud, einem machistischen Pseudo-Intellektuellen, und schließlich mit ihrem fast doppelt so alten Ziehvater Monsieur Bihotz ein.

"Die Geschichte einer modernen Lolita" verspricht der Klappentext von "Prinzessinnen". Ein Vergleich, der nicht nur die Romanentwicklung vorwegzunehmen scheint, sondern LeserInnen auch auf eine falsche Fährte führt: Im Gegensatz zu Nabokovs Protagonistin begibt sich Marie Darrieussecqs Solange freiwillig in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis. Geplagt von pubertären Selbstzweifeln und den ständigen Vergleichen mit ihren Freundinnen, die schamlos blenden, um sich als reif und weltgewandt zu profilieren, definiert sie sich vor allem über ihre Wirkung aufs andere Geschlecht. Plattitüden wie "Man muss in seiner Liga spielen" verinnerlicht Solange nach anfänglicher Ablehnung, lässt sich von Wichtigtuer Arnaud erniedrigen und schielt neidisch auf die gebräunten Schlüsselbeine der schönen Sixtine.

Vorgewarnt hat sie niemand - und das, obwohl sich die Spielregeln geändert haben: Nachdem die ideologischen Grabenkämpfe in den Sechzigern begonnen hatten, beherrschten Sex und Sexualität in den Achtziger Jahren sowohl die Charts als auch den öffentlichen Diskurs. Zum ersten Mal in der Geschichte waren junge Mädchen nicht mehr dem Diktat der verklemmten MoralwächterInnen ausgesetzt. Dafür kam der Druck nun von anderer Seite: "Es gab die ´Verpflichtung´, seine Jungfräulichkeit zu verlieren", erinnert sich Darrieussecq im Gespräch mit der Interview-Lounge .

Und dieser Verpflichtung geht Solange nach - strategisch, mit beinahe technischer Präzision und dennoch fiebrig und atemlos. Um der Schmerzhaftigkeit des Erwachsenwerdens beizukommen, überträgt die Autorin jenen Cocktail aus Rausch und Kalkül auf ihren Erzählstil und begleitet die Tour de Force ihrer jungen Protagonistin anhand von Fragmenten, Impressionen, Gedankensprüngen und assoziativen streams of consciousness, die der/dem LeserIn viel Interpretationsvermögen abverlangen. Das strengt an. Und tut weh: Leicht ist es nicht, Solange dabei zuzusehen, wie sie sich Selbstaufgabe und -betrug, körperlicher und seelischer Ausbeutung aussetzt. Vielleicht, weil die Erinnerungen an die eigene Pubertät noch immer recht lebendig sind.

AVIVA-Tipp: Jenseits der schwärmerischen Nostalgie vieler Coming-of-Age-Romane zeichnet Marie Darrieussecq ein ungeschminktes Portrait der Sexualität junger Mädchen und macht es sich dabei nicht leicht. Die nüchterne Präzision, mit der die französische Autorin zu Werke geht, ist ebenso atemberaubend wie verstörend: "Prinzessinnen" verweigert Wertungen und Urteile, aber auch plumpen Sensationalismus. Das überstrapazierte Lolita-Thema wird von Darrieussecq unter einem neuen Aspekt betrachtet - und gewinnt dadurch erst recht an Brisanz.

Zur Autorin: Marie Darrieussecq wurde 1969 in Bayonne geboren und studierte Literaturwissenschaft an der École Normale Supérieure in Paris. Mit ihrem Roman "Schweinerei" feierte sie 1996 ihre ersten Erfolge. Später folgten unter anderem "Gespenster sehen" (1999) und "Das Baby" (2004). Mit ihrem Mann, einem Astrophysiker, und ihren beiden Kindern lebt Darrieussecq als Schriftstellerin und Psychoanalytikerin in Paris.

Marie Darrieussecq
Prinzessinnen

Originaltitel: Clèves, erschienen 2011 bei P.O.L. in Paris
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Carl Hanser Verlag, München, erschienen im Januar 2013
304 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
19,90 Euro
ISBN 978-3446241206
Weitere Infos unter:
www.hanser-literaturverlage.de

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