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Beitrag vom 26.03.2013
Eva Menasse - Quasikristalle
Sonja Baude
Nichts Geringeres als der Lauf der Zeit wird hier ins Bild gerückt: Eine wunderbare Melange aus Scharfsinn, Sprachlust, Witz und Melancholie, in die die Österreicherin ihre LeserInnenschaft wirft.
Was sind Quasikristalle? Zuerst ein chemisches Phänomen, für dessen Entdeckung Daniel Shechtman 2011den Nobelpreis erhielt. Was es naturwissenschaftlich exakt damit auf sich hat, ist für den vorliegenden Roman nur peripher relevant. Die Abwesenheit von Symmetrie, etwas Aperiodisches und Unregelmäßiges ist gemeint und der Begriff wird darin zur Metapher für das vorliegende Buch, in dem Menasse das ganze weite Leben ihrer Protagonistin Roxane Molin aufspannt.
Die erzählte Biographie nimmt im Jugendalter in Wien ihren Anfang, wo Xane als Mitspielerin eines fragilen Freundinnendreiecks ihren Platz hat. Allein die Verbündung von Xane und Judith gegen Claudia, der schwächsten im Gespann, muss als dürftiger Kitt der Freundschaft herhalten. Mit dem plötzlichen Tod von Claudia offenbart er seine menschliche Grausamkeit und die Unumkehrbarkeit des Denkens und Handelns wird brutal spürbar, denn es bleibt keine Zeit für Wiedergutmachung.
Im zweiten Kapitel begegnen die LeserInnen Xane als kritisch denkende Studentin auf einer Exkursion nach Auschwitz, auf der sie sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandersetzt. Später als rebellische Filmkünstlerin, die unerschrocken die ganz alltäglichen Nachwehen des Austrofaschismus aufzeigt, wieder später als ehrgeizige Chefin einer politischkorrekt wirkenden Werbeagentur in Berlin. Wir lernen sie kennen als liebende Ehefrau eines Universitätsprofessors, als kompetente Stiefmutter und begeisterte Mutter, als sozial couragierte Freundin, die allerorts Ansehen genießt und die gesellschaftlichen Fäden in ihrer Person zu bündeln weiß. Ein breites Register sozialer Rollen wird hier gezogen und alles in allem entsteht das Bild einer Frau, die tief schöpft und das Leben trotz mancher Anfechtung auf wunderbare Weise zu leben versteht.
Aber, und nun greift der Titel des Romans, dieses Bild scheint zu wabern, es ist alles andere als kristallklar. Denn Xanes Identität, das ganz Eigene dieser schillernden Figur wird nur scheinbar fassbar, nur quasi-sichtbar, es entzieht sich der Eindeutigkeit. Und das ist Menasses wunderbarer Konstruktion ihres Romans zu verdanken, die sich selbst einer Erzähllinearität verweigert, stattdessen eine Vielzahl von Nebenfiguren in Szene setzt, aus deren jeweiliger Perspektive der Blick auf Xane fällt, zuweilen ganz schwärmerisch, zuweilen zutiefst argwöhnisch. In der Gesamtheit der 13 Blickwinkel entsteht ein facettenreiches, kaleidoskopisches Ganzes von Xane Molin, durchbrochen von Leerstellen, das sich jederzeit der Zuschreibung auch wieder entziehen kann.
All diese Menschen, die das Leben von Xane in unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen kreuzen, sie auf ganz subjektive Weise wahrnehmen und sie also auch als Projektionsfläche eigener Bedürfnisse und Wünsche für sich nutzbar machen, werden dabei selbst in wenigen Strichen lebendig und vertraut, ihre Bedürftigkeit erscheint verstehbar. Wie nebenbei gelingt Menasse mit all ihnen, die im Kontakt zu Xane treten, ein detaillierter Grundriss von Gesellschaft, ohne vermeintliche Gewissheiten festzuschreiben.
"Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit".
So heißt es bei Wilhelm Busch. Eva Menasse erzählt auf über 400 Seiten dieses Phänomen, sie erzählt nicht darüber, sondern lässt es erzählerisch fühlbar werden: der Sand der Zeitenuhr rinnt unerbittlich. Und auch bei Menasse steht am Ende der Tod, wenn auch vorerst nicht der von Xane selbst, der scheint noch einmal aufgeschoben, aber er wird kommen, unabwendbar. Das rasante Tempo, das Buschs Vers innewohnt, macht auch Menasse sich zu eigen. Ihr Erzählrhythmus ist ebenso atemlos. Das ist grandios, bei allem Schauer, der bei der Lektüre aufkommt. Menasses Sprache ist voll von Witz, von flirrender Leichtigkeit und kluger Analyse des Zeitgeschehens, der Ton im Wechsel jauchzend und wehmütig. Ein großes Lesevergnügen!
AVIVA-Tipp: Eva Menasses "Quasikristalle" gleicht einer gewaltigen Sanduhr, die unablässlich rinnt. Mit ihr in der Hand und gegen sie an rennen die Menschen, allen voran die Protagonistin des Romans Xane Molin. Aber trotz besseren Wissens laufen sie, als stünde am Ende nicht unabwendbar der Tod. Nur manchmal halten sie inne, erschaudern einen Augenblick und nehmen erneut den vergeblichen Kampf auf. Menasse findet dafür eine überaus lebendige Sprache, amüsant und hellsichtig, und tröstet so wunderbar heilsam über die Wahrheit hinweg.
Zur Autorin: Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren. Als Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" begleitete sie in London den Prozess um den Holocaustleugner David Irving. Nach einem Pragaufenthalt arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Wien. Seit 2003 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin. Für ihren Debutroman "Vienna" erhielt sie 2005 den Rolf Heyne Debütpreis. Nach dem Erzählungsband "Lässliche Todsünden" ist "Quasikristalle" nun ihr zweiter Roman.
Eva Menasse
Quasikristalle
Kiepenheuer & Witsch, erschienen Februar 2013
432 Seiten
ISBN: 978-3-46204-513-0
19,99 Euro
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