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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 15.03.2013


María Sonia Cristoff - Unter Einfluss
Julia Lorenz

Der Zusammenstoß zweier Fremder in der argentinischen Hauptstadt lässt Knochen, Brillengestelle, Selbstbilder und Lebensentwürfe zerbrechen - und doch zwei Einzelgänger zueinander finden. Irgendwie.




Die Geschichte von Tonia und Cecilio beginnt mit einem Knall. Und das ganz real. Keine Liebe auf den ersten Blick, kein elektrisierender Augenkontakt, sondern ein gänzlich unromantischer Zusammenprall auf den Straßen von Buenos Aires führt sie zusammen. Cecilios dicke Vintage-Brille geht zu Bruch, Tonia verarztet seine gebrochene Nase, beide verlassen den Ort des Geschehens - und kehren zueinander zurück. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Metropole sucht Cecilio nach Inspiration für sein künstlerisches Schaffen. Tonia hingegen, die hochintelligente Tochter einer Galeristin, betrachtet sie als kleine Fluchten aus ihrem gleichförmigen und mit beinahe zwangsneurotischer Pedanterie organisierten Alltag.

Was sich nach der Blaupause für den Beginn einer zarten AußenseiterInnen-Romanze anhört, bleibt in Wirklichkeit platonisch: Statt schattige Seitenstraßen und Geheimwege zu erforschen, bevorzugen sie für ihre Märsche die großen Alleen der Stadt und dekonstruieren dabei wechselseitig ihre Lebensentwürfe. Wärme und Zuneigung im landläufigen Sinne suchen externe BeobachterInnen vergeblich. Nichtsdestotrotz begibt sich Tonia in eine unerklärliche Abhängigkeit von Cecilios Gesellschaft, verliert erst die Kontrolle über ihr wohlgeordnetes Leben und schließlich sich selbst - bis sie eines Tages spurlos verschwunden ist. Drei Notizhefte und ein Telegramm mit der Botschaft "Auszeit" sind die einzigen Lebenszeichen, die sie ihrer Mutter und der besten Freundin hinterlässt.

Es ist ein seltsames Buenos Aires, durch das sich Tonia und Cecilio bewegen: Bei aller Hitze, Lebendigkeit und Geschwindigkeit bleibt die Atmosphäre unterkühlt, die Charaktere distanziert. María Sonia Cristoff beobachtet genau und schafft intime Momente, respektiert jedoch die Grenzen ihrer komplexen ProtagonistInnen. Vor allem Tonia verschanzt sich zu offensiv in ihrem Mikrokosmos, um für den/die LeserIn zugänglich zu werden. Obgleich individuiert und weltfremd, richtet sie ihren zynischen Blick dennoch sehr klarsichtig auf die intellektuelle Großstadtelite, mit der sie aufgewachsen ist - und die im Roman so bissig wie klug portraitiert wird: In der festen Überzeugung, KosmopolitInnen zu sein, sind die Kunstschaffenden bei María Sonia Cristoff derart den eigenen Manien und Neurosen verhaftet, dass die Weltoffenheit als Farce entlarvt wird.

So offenbaren sich Eitelkeit und Oberflächlichkeit, wenn bei der Konzipierung einer Vernissage nicht nur die Liebe zur Kunst, sondern vor allem die Selbstdarstellung der Anwesenden im Vordergrund steht: "Zunächst glaubten die anderen, es gehe ihr darum, wie die Werke selbst beleuchtet werden sollen, während meine Mutter sich in Wirklichkeit wegen der schlaffen Lider und nicht immer ganz geglückten Operationen ihres Publikums Sorgen machte", erinnert sich Tonia in ihren Aufzeichnungen.

Maria Sonia Cristoff versammelt in ihrem Roman ein eigenwilliges Ensemble von StadtneurotikerInnen, die sich auf ihrer eigenen Umlaufbahn unermüdlich selbst umkreisen - und somit nicht nur den Realitätsbezug verlieren, sondern auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen gefährden. Bis es kracht.

AVIVA-Tipp: Viele Geschichten enden mit einem Paukenschlag, diese beginnt mit einem. Danach setzt die Autorin nicht auf Knalleffekte, sondern ganz auf ihr auf subtiles erzählerisches Talent: Gekonnt spielt Cristoff mit Perspektiven und lotet die Grenzen zwischen psychischen Zwängen und intellektuellen Posen aus. Wer unter welchem - oder wessen? - Einfluss steht, rekonstruiert sich im Verlauf des Romans, der nicht nur eine sensible Charakterstudie, sondern auch ein spitzzüngiger Seitenhieb auf die Allüren des Kunstbetriebs ist.

Zur Autorin: María Sonia Cristoff wurde 1965 in Trelew/Patagonien geboren und lebt in Buenos Aires. Sie studierte Literatur in der argentinischen Hauptstadt und arbeitet dort seit den 1980er Jahren als freie Journalistin für diverse Zeitungen und literarische Magazine. 2010 erschien das Werk "Patagonische Gespenster. Reportagen vom Ende der Welt" in Deutschland, zwei Jahre später ihr Kurzroman "Unbehaust. Was Menschen mit Tieren machen". Neben ihrer Tätigkeit als Autorin unterrichtet sie Patagonische Literatur und Kreatives Schreiben.

María Sonia Cristoff
Unter Einfluss

Originaltitel: Bajo Influencia, erschienen 2010 bei Edhasa, Buenos Aires
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Verlag, Berlin, erschienen 6. März 2013
168 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet
20,00 Euro
ISBN 978-3-937834-62-7
Weitere Infos unter:
www.berenberg-verlag.de

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Beitrag vom 15.03.2013

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